Ein Familienporträt: Die Sprachfamilien der Welt im Überblick

Sprachfamilien, „echte“ Familien, aber auch Bäume sind sich in manchen Punkten ziemlich ähnlich.
Großer Baum, der Sprachfamilien darstellt

Manchmal werden Sprachen in separate Schubladen gepackt und behandelt, als wären sie etwas komplett Abgegrenztes. Spanisch ist zum Beispiel anders als Italienisch, das wiederum anders ist als Englisch. Und so weiter … Wenn du dich aber ein bisschen mit Sprachen auskennst, weißt du, dass das nicht wirklich so ist. Sprachen sind nämlich nicht nur kein Monolith – sie existieren auch nicht getrennt voneinander. Im Gegenteil: Sprachen haben komplexe Beziehungen zueinander und manchmal sogar eine gemeinsame Geschichte. In diesem Fall können sie Mitglieder ein und derselben Sprachfamilie sein.

Auch wenn du mit dem Konzept der Sprachfamilien nicht allzu sehr vertraut bist, weißt du wahrscheinlich ein bisschen über das Thema. Vielleicht kennst du ja die romanischen Sprachen, eine europäische Sprachfamilie, zu der unter anderem Spanisch, Französisch und Portugiesisch gehören. Und vielleicht weißt du auch, dass Deutsch und Englisch Teil derselben Sprachfamilie sind. Aber es gibt noch so viel mehr Spannendes rund um die verschiedenen Sprachfamilien. In diesem Artikel erklären wir dir, was eine Sprachfamilie eigentlich ist. Außerdem findest du Links zu allen Artikeln aus unserer Reihe „Ein Familienporträt: …“, damit du mehr über die einzelnen Familien erfahren kannst.

Was sind Sprachfamilien?

Eine Sprachfamilie kannst du dir – genau wie jede andere Familie – am besten als Baum vorstellen: Dahinter steckt die Idee, dass es eine einzelne Sprache, den Stamm quasi, gibt, aus der alle Mitglieder dieser Familie entwachsen sind. Das Konzept der Zweige ist auch ganz hilfreich, denn normalerweise bilden sich diese neuen Sprachen, indem sie sich voneinander abspalten. In jeder größeren Sprachfamilie kann es kleinere Sprachfamilien geben.

Wir wollten die Baum-Metapher aber nicht überstrapazieren. Die einfachste Definition von Sprachfamilie ist: jede Gruppe von Sprachen, die eine gemeinsame Stammsprache haben. Die romanischen Sprachen zum Beispiel stammen vom Vulgärlatein ab. Vulgärlatein wiederum gehört zur indoeuropäischen Sprachfamilie und lässt sich auf das Proto-Indoeuropäisch zurückführen, das Vorfahre Hunderter von Sprachen ist, die vor allem in Europa und Asien gesprochen werden. Eine einfache Definition, oder? Aber die Dinge werden schnell kompliziert …

Woher wissen wir, welche Sprachen zu welchen Sprachen gehören?

Auch der Prozess zur Bestimmung der Abstammung einer Sprachfamilie ähnelt dem von echten Familien. Je weiter du zurückgehst, desto schwieriger wird es herauszufinden, wer mit wem verwandt ist. Wenn sich zwei Sprachen sehr ähnlich sind – nehmen wir als Beispiel die skandinavischen Sprachen, die quasi gegenseitig verständlich sind – ist es relativ einfach, ihre Verwandtschaft zu ermitteln. Aber was, wenn es nur wenige Gemeinsamkeiten gibt? 

In einer idealen Welt gibt es schriftliche Aufzeichnungen, die ganz klar beweisen, ob und wie Sprachen miteinander verwandt sind. Die romanische Sprachfamilie wird gerne als Beispiel angeführt. Und zwar nicht nur, weil die Sprachen weit verbreitet sind, sondern auch, weil es eine klare Geschichte gibt, die zeigt, wie sie sich aus dem Vulgärlatein in ihre heutigen Formen entwickelt haben. Was Sprachfamilien angeht, ist eine solche Klarheit sehr ungewöhnlich.

Wenn du keine „Papierspur“ für eine Sprachfamilie hast, musst du dich auf historische Rekonstruktionen verlassen. Dazu vergleicht man alte Formen von Sprachen, um zu sehen, wie ähnlich sich Grammatik und Wortschatz sind. Daraus entwickelt man dann eine theoretische Proto-Sprache. Sprachforschende untersuchen die indoeuropäischen Sprachen und erkennen, dass sich bestimmte Wörter über unterschiedliche Sprachen hinweg ziemlich ähnlich sind. „Vater“ zum Beispiel stammt wahrscheinlich vom proto-indoeuropäischen pehter ab. Es gibt keinen schriftlichen Nachweis für dieses Wort, aber wenn sich Linguist:innen verschiedene Sprachen anschauen, finden sie pitar im Sanskrit, pater im Lateinischen, pitar im Altpersischen und athir im Altirischen. Daraus können sie dann ableiten, dass alle diese Wörter von einem gemeinsamen Stammwort herrühren. Ein Wort macht natürlich noch keine Sprachfamilie aus. Und deshalb müssen bei historischen Rekonstruktionen viele weitere Wörter untersucht werden, ehe man eine Sprache klassifizieren kann.

Was Sprachfamilien noch verwirrender macht, ist die Tatsache, dass sich Sprachen immer wieder vermischen. Sehr viele Sprachen auf der Welt weisen zum Beispiel Elemente aus dem Englischen auf. Der Grund ist das lange Erbe des britischen Kolonialismus. Das bedeutet aber nicht, dass diese Sprachen eine gemeinsame Wurzel mit dem Englischen haben – es ist eher eine Art Mischehe. Manchmal herrscht Uneinigkeit darüber, ob zwei Sprachen zur gleichen Sprachfamilie gehören oder sich nur aufgrund der langjährigen Nähe gegenseitig beeinflusst haben. Und manchmal können Sprachforschende auch nur sagen: Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Sprachen miteinander verwandt sind.

Du möchtest bestimmte Sprachfamilien besser kennenlernen?

Am besten lernst du etwas über Sprachfamilien, wenn du dir die einzelnen Familien ansiehst, die es so gibt. Jede hat ihre ganz eigene faszinierende Geschichte. Und jede stellt unsere Idee, was „Sprache“ und „Familie“ bedeuten, in irgendeiner Weise auf den Kopf. In unserer Reihe „Ein Familienporträt: …“ erfährst du mehr darüber, wie die einzelnen Familien funktionieren.

  • Die indoeuropäische Sprachfamilie: eine der größten Sprachfamilien in der Welt, die aus Hunderten von Sprachen besteht, darunter die germanischen, romanischen, baltischen und slawischen Sprachfamilien.
  • Die romanische Sprachfamilie: die wahrscheinlich bekannteste Sprachfamilie; die romanischen Sprachen werden fast überall in Europa gesprochen.
  • Die germanische Sprachfamilie: die Familie des Englischen und des Deutschen; zu den germanischen Sprachen gehören auch die nordischen und skandinavischen Sprachen sowie ein paar weitere Sprachen, die in Europa gesprochen werden.
  • Die slawische Sprachfamilie: Die slawischen Sprachen werden in ganz Russland und in Teilen Ost- und Nordeuropas gesprochen und gehören ebenfalls zur größeren indoeuropäischen Sprachfamilie.
  • Die baltische Sprachfamilie: Es gibt nur relativ wenige baltische Sprachen, die einzigen noch lebenden Mitglieder dieser Familie sind Lettisch und Litauisch.
  • Die uralische Sprachfamilie: Die uralischen Sprachen sind weniger bekannt als ihre Nachbarinnen. Zu ihnen gehören Ungarisch, Finnisch, Estnisch sowie weitere 35 kleinere Sprachen.
  • Die altaische Sprachfamilie: Früher dachte man, dies sei eine einheitliche Sprachfamilie. Aber heute sind die meisten Sprachforschenden überzeugt, dass die altaischen Sprachen in Wirklichkeit aus den drei separaten Sprachfamilien Tungusisch, Mongolisch und den Turksprachen bestehen. 
  • Die keltische Sprachfamilie: Während die meisten keltischen Sprachen, darunter Irisch, Schottisch-Gälisch und Manx, heute nur noch in Teilen der britischen Inseln zu finden sind, waren sie früher über den gesamten europäischen Kontinent verbreitet.
  • Die afroasiatische Sprachfamilie: Diese Familie ist die viertgrößte der Welt und umfasst Sprachen, die in Nord- und Ostafrika und auf der arabischen Halbinsel gesprochen wird. Sie hat sechs unterschiedliche Zweige: Berberisch, Tschadisch, Kuschitisch, Ägyptisch, Omotisch und Semitisch.
  • Die semitische Sprachfamilie: Von allen semitischen Sprachen hat Arabisch mit Abstand die meisten Sprechenden. Zu dieser Sprachfamilie gehört außerdem die einzige Sprache, die jemals erfolgreich wiederbelebt wurde, nachdem sie für tot erklärt worden war: das Hebräische.
  • Die amerindische Sprachfamilie: Amerind ist der Sammelbegriff für alle Sprachen, die vor der Ankunft der Europäer:innen in Nord- und Südamerika gesprochen wurden. Die amerindischen Sprachen gehören zu den am schwersten zu erforschenden Sprachen der Welt, weil der Großteil ihrer Geschichte durch den Kolonialismus zerstört wurde.
  • Die Maya-Sprachfamilie: eine Gruppe von 32 Sprachen, die in Nordamerika beheimatet sind. Sie haben den Lauf der Zeit besser überdauert als jede andere Sprachfamilie in Amerika.
  • Die sinotibetische Sprachfamilie: eine riesige Familie mit über 400 Mitgliedern, von denen die meisten in Ostasien zu finden sind; Sprechende dieser Sprachen gibt es aber überall auf der Welt.
  • Die dravidische Sprachfamilie: Mit etwa 215 Millionen Sprechenden werden die dravidischen Sprachen in Teilen Sri Lankas, Südindiens, Pakistans und Nepals gesprochen; das größte Familienmitglied ist Telugu.
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