Wie in jeder Familie können die Beziehungen auch bei den Sprachfamilien chaotisch, verwirrend und unübersichtlich sein. Während es in einigen Familien schön ordentlich und gut strukturiert zugeht wie bei den romanischen und germanischen Sprachen – allesamt bestens erforscht und übersichtlich organisiert – stehen andere Sprachfamilien auf einem viel wackeligeren Fundament. Altaische Sprachen, die aus rund 65 Sprachen bestehen, die in allen möglichen Teilen Asiens und Osteuropas gesprochen werden, gehören definitiv zu den Chaosfamilien. Ja eigentlich passen sie nicht einmal in die linguistische Kategorie der Sprachfamilie. Schaut man sie sich aber in ihrer Gesamtheit an, findet man eine Menge Ähnlichkeiten, was ihre Entstehung und Entwicklung betrifft.
Wie werden altaische Sprachen definiert?
Heute herrscht allgemeiner Konsens, dass die altaischen Sprachen der Definition von „Sprachfamilie“ nicht entsprechen. Um eine Familie zu sein, müssen alle Mitglieder von einem einzigen Vorfahren abstammen. Du kannst dir das wie eine königliche Ahnenreihe vorstellen: Hier gehört man nur offiziell dazu, wenn man ein direkter Nachfahre einer einzigen Proto-Sprache ist. Man hat lange geglaubt, dass die altaischen Sprachen eine Familie bilden, die von einer proto-altaischen Sprache abstammen – aber das ist mittlerweile widerlegt. Dazu später mehr …
Also was sind die altaischen Sprachen dann? Eine mögliche Bezeichnung für dieses Gebilde ist der „Sprachbund“. Altaische Sprachen werden auch als „Sprachkreuzung“, „linguistischer Konvergenzraum“, „Verbreitungsgebiet“ und, vielleicht am einfachsten, als „Sprachraum“ bezeichnet. Ein Sprachbund ist eine Gruppe von Sprachen mit gemeinsamen Merkmalen. Der Hauptunterschied zwischen einer Sprachfamilie und einem Sprachbund ist, dass diese Ähnlichkeiten auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Betrachten wir Sprachfamilien als königliche Ahnenreihe, entspricht der Sprachbund eher einer Großfamilie mit Mischehen und jeder Menge Cousinen und Cousins.
Welche Sprachen sind altaische Sprachen?
Zu den altaischen Sprachen gehören drei Sprachfamilien: Turksprachen, Tungusisch und Mongolisch. Deshalb schlüsseln wir die Sprachen hier nach ihren Familien auf. Eine kleine Anmerkung am Rande: Selbst innerhalb der etablierteren Sprachfamilien gibt es Diskussionen darüber, welche Sprachen „echte“ Mitglieder sind und welche überhaupt als Sprachen definiert werden können. Über diese Kategorien gibt es in den verschiedenen Quellen ziemlich viele unterschiedliche Meinungen. Für die folgenden Klassifizierungen und Informationen zur Anzahl der Sprechenden haben wir Ethnologue herangezogen.
Die Turksprachen sind die größte Sprachfamilie unter den altaischen Sprachen und sie werden in Asien und Osteuropa gesprochen. Die wohl bekannteste Turksprache ist Türkisch, aber insgesamt umfasst diese Familie 41 verschiedene Sprachen: Urum, Tschuwaschisch, Ainu, Tschagataisch, Ili Turki, Uigurisch, Nord-Usbekisch, Süd-Usbekisch, West-Yugurisch, Nord-Altaisch, Süd-Altaisch, Dolganisch, Karagassisch (auch: Tofalarisch), Chakassisch, Schorisch, Tuwinisch, Jakutisch, Krimtatarisch, Kaschgaisch, Chaladsch, Salarisch, Nord-Aserbaidschanisch, Süd-Aserbaidschanisch, Salchuq, Balkan-Gagausisches Türkisch, Gagausisch, Khorasani-Türkisch, Türkisch, Turkmenisch, Karakalpakisch, Kasachisch, Kirgisisch, Nogaisch, Karatschai-Balkarisch, Karaimisch, Krimtschakisch, Kumykisch, Baschkirisch, Tschulymisch, Tatarisch und Sibirisches Tatarisch.
Als Nächstes kommt die Familie der mongolischen Sprachen, zu denen Sprachen in der Mongolei und ihrem Umkreis zählen. Die größte davon ist Mongolisch, insgesamt gibt es 13 Sprachen: Daur, Bonan, Dongxiang, Kangjia, Tu, Ostjugurisch, Burjatisch (China), Burjatisch (Russland), Burjatisch (Mongolei), Halh-Mongolisch, peripheres Mongolisch, Oriat-Kalmyk und Moghol.
Die letzte Familie sind die tungusischen Sprachen, die in der Mandschurei und in Sibirien gesprochen werden. Die elf tungusischen Sprachen sind Even, Evenki, Oroqen, Negidal, Nanai, Orok, Ulch, Oroch, Udihe, Mandschu und Xibe.
Es gibt noch zwei weitere Familien, die laut einigen Sprachforschenden zu den altaischen Sprachen gezählt werden sollten: Japonisch und Koreanisch. Beide Sprachfamilien sind sehr klein – die einzige lebende koreanische Sprache ist das Koreanische, und die einzigen japonischen Sprachen sind das Japanische und die Ryukyuan-Sprachen. Die Wissenschaft sieht zwar gewisse Ähnlichkeiten zwischen diesen und den anderen altaischen Sprachen. Trotzdem ist das Ganze nicht besonders fundiert und deshalb werden wir auch nicht näher darauf eingehen.
Wie viele Menschen sprechen eine altaische Sprache?
Es ist schwer herauszufinden, wie viele Menschen genau eine altaische Sprache sprechen. Richtige Datenbanken zu den einzelnen Sprachen existieren nicht und die Rohdaten, die es gibt, zeigen nicht, wie viele Überschneidungen zwischen den einzelnen Sprachen da sind. Sehr grob geschätzt sprechen insgesamt knapp 200 Millionen Menschen eine altaische Sprache. Aber schauen wir uns erstmal jede Sprachfamilie gesondert an, um eine ungefähre Idee zur Zahl ihrer Sprechenden zu bekommen.
Von allen drei Sprachfamilien haben die Turksprachen die meisten Sprechenden – ihre Zahl variiert je nach Sprache aber extrem. Manche Sprachen wie Salchuq und Tschagataisch sind komplett ausgestorben. Die größten Turksprachen sind Türkisch (über 85 Millionen Sprechende), Nord-Usbekisch (fast 27 Millionen), Süd-Aserbaidschanisch (fast 14 Millionen), Kasachisch (etwa 13 Millionen) und Uigurisch (über 10 Millionen). Insgesamt sprechen 190 Millionen Menschen eine Turksprache – das sind rund 95 Prozent aller Altaisch-Sprechenden.
Die mongolischen Sprachen werden von rund 7,3 Millionen Menschen gesprochen. Die meisten davon sprechen entweder peripheres Mongolisch (3,4 Millionen), oder Halh-Mongolisch (2,7 Millionen). Oft werden diese beiden Sprachen zu „Mongolisch“ zusammengefasst, Ethnologue allerdings untersucht sie getrennt. Daneben gibt es noch eine kleinere Anzahl an Menschen, die Oriat-Kalmyk (431.000), russisches Burjatisch (219.000) und Dongxiang (200.000) sprechen.
Die tungusischen Sprachen schließlich werden von etwa 54.000 Menschen gesprochen. Die größte davon ist Xibe mit 30.000 Sprechenden, gefolgt von Evenki (15.800) und Even (5.600). Viele Sprachen dieser Familie sind gefährdet und werden nur noch von einer Handvoll Menschen gesprochen.
Wie ähnlich sind sich die altaischen Sprachen?
Die altaischen Sprachen sind sich auf jeden Fall ähnlich, aber es ist fast unmöglich zu sagen, wie groß diese Ähnlichkeiten sind. Wie bereits erwähnt, gibt es keine wirkliche Möglichkeit zu bestimmen, ob die Sprachen miteinander verwandt sind, denn die sprachliche Abstammung zu bestimmen, ist ganz schön schwierig.
Philip Johan von Strahlenberg hat als erster Wissenschaftler eine Verbindung zwischen den altaischen Sprachen gesehen. Der Geograph lebte im 18. Jahrhundert und seine wohl größte Errungenschaft war es, eine Karte von Russland zu erstellen. Dabei befasste er sich nicht nur mit der physischen Landschaft Russlands und Asiens, sondern auch mit den Menschen dort. Und er veröffentlichte ein Buch, das die Turksprachen, die mongolischen und die tungisischen Sprachen miteinander in Bezug setzte. Von Strahlenberg fand zwar Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen, aber er ging nicht so weit, sie zu einer Familie zu erklären.
Erst in den folgenden Jahrhunderten fassten einige Sprachforschende diese Sprachen zur altaischen Sprachfamilie zusammen. Laut dem finnischen Linguisten Matthias Castrén gehören sie sogar zu einer noch größeren Sprachfamilie, nämlich den ural-altaischen Sprachen. Diese Theorie kombinierte die altaischen mit den finno-ugrischen und samojedischen Sprachen. Heute ist diese Theorie allerdings komplett überholt.
Aber auch im 21. Jahrhundert sind einige Sprachforschende der Meinung, dass die altaischen Sprachen zu einer einzigen Familie gehören. Dabei berufen sie sich auf die Tatsache, dass alle drei Sprachfamilien gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Ein Merkmal aller altaischen Sprachen ist, dass sie agglutinierend sind. Das bedeutet, dass die Wörter durch eine Aneinanderreihung von „Morphemen“ (die kleinste Bedeutungseinheit einer Sprache) gebildet werden. In den meisten Sprachen gibt es Agglutination in stärkerer oder schwächerer Ausprägung (im Deutschen zum Beispiel durch agglutinierende Suffixe wie -los oder -voll); agglutinierende Sprachen machen das aber in einem viel stärkeren Umfang. In vielen altaischen Sprachen gibt es außerdem die sogenannte Vokalharmonie, wobei Vokale immer in bestimmten Gruppierungen auftreten.
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Das zweite Hauptargument für die Sprachfamilie ist etwas einfacher: der gemeinsame Wortschatz. Wenn Sprachen ähnliche Wörter haben, um ein und dasselbe Konzept zu beschreiben, kann das ein Hinweis darauf sein, dass diese Sprachen irgendwie miteinander verwandt sind. Der Begriff Haus zum Beispiel ist house im Englischen, huis im Niederländischen und in Afrikaans und hûs im Friesischen. Das belegt, dass alle diese Sprachen Teil einer Sprachfamilie sind, nämlich der germanischen. Der russische Linguist Sergei Starostin, einer der obersten Befürwortenden der Theorie der altaischen Sprachfamilie, hat eine Liste von häufigen Begriffen – zum Beispiel „ich“, „du“, „was“, „Mond“ und „Hund“ – genommen und herausgefunden, dass es in etwa 20 Prozent der Fälle lexikalische Ähnlichkeiten zwischen den altaischen Sprachen gibt.
Die Gegnerinnen und Gegner der Theorie wiederum argumentieren, dass das noch lange kein ausreichender Beweis ist. Es ist zwar nicht unwesentlich, dass alle altaischen Sprachen agglutinierend sind und Vokalharmonie haben, aber es ist auch nicht unbedingt ein Beweis dafür, dass sie geschichtlich miteinander verwandt sind. Außerdem beweist ein bestimmter Grad an lexikalischer Gemeinsamkeit nicht zwangsläufig, dass zwei Sprachen zur selben Sprachfamilie gehören. Zum Beispiel: Geschätzte 25 Prozent des englischen Wortschatzes stammen vom Französischen, aber das liegt an der historischen Vermischung, und nicht daran, dass sie zur selben Familie gehören.
Die einzige Möglichkeit herauszufinden, woher die Gemeinsamkeiten kommen, ist ein Blick in die Vergangenheit. Die russische Linguistin Asya Pereltsvaig hat sich ebenfalls intensiv mit den altaischen Sprachen auseinandergesetzt und bei der Durchsicht älterer Texte herausgefunden, dass sich die Turk- und mongolischen Sprachen vor Jahrhunderten noch deutlich weniger ähnelten, als sie es heute tun. Das genaue Gegenteil also von dem, was man erwarten würde, wenn die beiden Sprachen einen gemeinsamen Vorfahren hätten. Und das legt nahe, dass sich ihre Gemeinsamkeiten allein aus dem Kontakt zueinander ergeben haben.
Nach all diesen Ausführungen können wir nur sagen: Es ist immer noch unklar, ob die altaischen Familien eine echte Sprachfamilie sind. In unserem Artikel präsentieren wir dir die jüngsten Forschungsergebnisse. Es könnte allerdings gut sein, dass die Wissenschaft in ein paar Jahren zu ganz anderen Ergebnissen kommen wird. Die altaischen Sprachen zu einer Gruppe zusammenzufassen, hilft zwar, um zu sehen, wie diese drei Sprachfamilien zusammenwirken, aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das eher eine praktische Zusammenfassung als eine logische Sprachkategorisierung.