Die amerindischen Sprachen: Ein Familienporträt

Eins vorweg: Eigentlich bilden die indigenen Sprachen in Nord- und Südamerika keine Sprachfamilie.
Büffelherde zum Thema Amerind bzw. Amerindische Sprachen

Diese Sprachfamilie ist ein bisschen kompliziert … Wenn du dir die europäischen Sprachen anschaust, denkst du wahrscheinlich, dass sich Sprachen ganz einfach in nette, übersichtliche Kategorien einteilen lassen. Englisch zum Beispiel gehört zu den germanischen Sprachen und die Entwicklung des Englischen lässt sich wunderbar schriftlich belegen. Aber viele Sprachen haben – aus den unterschiedlichsten Gründen – keine so gut dokumentierte Geschichte. Deshalb ist es ganz schön viel Arbeit, sie zu klassifizieren – so auch bei den Amerind Sprachen.

Wegen der verheerenden Folgen des Kolonialismus, und weil es ziemlich wenig schriftliche Aufzeichnungen gibt, lässt sich bestenfalls spekulieren, wie die Amerind Sprachen zusammenpassen. Es ist bis heute nicht klar, wie die einzelnen Sprachen zusammenhängen. Und selbst die besten Mutmaßungen stützen sich auf andere Mutmaßungen … Aber auch wenn sie nicht perfekt ist: Die linguistische Genealogie kann den ganzen Reichtum der indigenen amerikanischen Sprachen enthüllen.

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Was sind Amerind Sprachen eigentlich?

Der allgemeine Begriff „amerindische Sprachfamilie“ bezieht sich auf die Sprachen, die vor Ankunft der Europäer:innen im 15. Jahrhundert in Nord- und Südamerika gesprochen wurden. Zu diesem Zeitpunkt gab es auf den Kontinenten etwa 2.000 verschiedene Sprachen. The Native Languages of the Americas, eine gemeinnützige Organisation, die die amerindischen Sprachen dokumentiert, schätzt, dass heute noch etwa 800 dieser Sprachen existieren. Auf ihrer Website listet die Organisation 499 Sprachen auf. Es ist sehr schwer, genaue Zahlen zu bekommen und alle Sprachen zu erfassen ist ein kontinuierlicher Prozess. Aber eines ist klar: dass ihre Zahl in den letzten Jahrhunderten drastisch abgenommen hat.

Technisch gesehen ist eine Sprachfamilie eine Gruppe von Sprachen, die allesamt auf eine einzige Stammsprache zurückgehen. So lässt sich zum Beispiel jede Sprache aus der indoeuropäischen Familie zu einer hypothetischen proto-indoeuropäischen Sprache zurückverfolgen. Bei der amerindischen Sprachfamilie geht das nicht. Sie ist keine „echte“ Familie, weil die einzelnen Sprachen nicht miteinander verwandt sind. Sie „amerindische Sprachfamilie“ zu nennen, ist also nicht ganz korrekt, aber es ist eine nützliche Gruppierung. Es gibt auch Vorschläge für Sprachfamilien innerhalb der indigenen Sprachen Amerikas, aber herauszufinden, welche Sprachen genau miteinander verwandt sind, stellt sich ebenso als schwierig heraus – mehr dazu später!

Amerind: Wie viele Menschen sprechen eine amerindische Sprache?

The Native Languages of the Americas schätzt, dass über 25 Millionen Menschen eine Amerind Sprache sprechen. Aber diese Zahlen verteilen sich nicht gleichmäßig über die Hunderten von amerindischen Sprachen: Die 10 größten Sprachen haben Hundertausende von Sprechenden, während die unteren 100 Gefahr laufen, innerhalb von ein oder zwei Generationen komplett auszusterben.

Die 10 größten Amerind Sprachen (nach Anzahl der Sprechenden)

  1.  Quechua: 7,7 Millionen
  2.  Maya: 6,4 Millionen
  3.  Guarani: 6,2 Millionen
  4.  Nahuatl: 1,7 Millionen
  5.  Aymara: 1,6 Millionen
  6.  Mixtec: 518.000
  7.  Zapotec: 441.000
  8.  Otomi: 285.000
  9.  Totonac: 268.000
  10.  Mapudungun: 250.000 

Hinweis: Die Daten stammen von Ethnologue. Andere Quellen weichen möglicherweise ab, weil es keine hundertprozentig genaue Erfassung aller Sprachen in der Welt gibt.

Die Liste enthält Makrosprachen, die sich in kleinere Sprachen unterteilen lassen. Es gibt zum Beispiel 31 Maya-Sprachen, die sich aber nicht gegenseitig verstehen können. Die obenstehende Liste bietet einen guten Überblick über die indigenen Sprachen, die noch gesprochen werden – vor allem, weil es schwierig ist, genaue Zahlen für die kleineren Sprachen zu ermitteln.

Wo werden amerindische Sprachen gesprochen?

Die amerindischen Sprachen verteilen sich über ganz Nord- und Südamerika und Teile von Grönland. Wie bereits erwähnt reicht es aus, dass eine Sprache vor der Ankunft von Columbus & Co. in der „neuen Welt“ gesprochen wurde, um sich als amerindische Sprache zu qualifizieren.

Die meisten Menschen, die heute noch eine amerindische Sprache sprechen, leben in Mexiko und Südamerika. In Mexiko gibt es 12 Sprachen, die zu den 30 meistgesprochenen amerindischen Sprachen gehören. In den USA gibt es nur zwei davon. Von den 25 Millionen Menschen, die eine amerindische Sprache sprechen, lebt eine halbe Million in den USA oder in Kanada.

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Wie ähnlich sind sich die amerindischen Sprachen?

Diese Frage wird seit Jahrzehnten heiß diskutiert. Im letzten Jahrhundert haben Sprachforschende viele Vermutungen angestellt, um herauszufinden, wie genau Sprache den Weg auf den amerikanischen Kontinent gefunden und sich dort verbreitet hat.

Ein Großteil der linguistischen Arbeit besteht darin, mithilfe von modernen Sprachen zu rekonstruieren, wie sich Sprachen im Laufe der Jahrtausende entwickelt haben. Es wurden viele Hypothesen aufgestellt – die Forschenden gehören entweder zum Team „Lumper“ oder zum Team „Splitter“. Diese beiden Begriffe sind nicht spezifisch für die Linguistik – vielmehr bezeichnen sie jene, die viele verschiedene Dinge in eine Kategorie packen wollen (Lumper: vom Englischen to lump, also „Klumpen bilden”), und solche, die Kategorien lieber splitten (vom Englischen to split, „aufteilen”) und sagen, dass sich die Dinge in dieser Kategorie doch nicht so ähnlich sind, wie bislang angenommen. Keines dieser beiden Teams ist besser als das andere. Und beide gehören zur wissenschaftlichen Forschung dazu.

Ein prominenter Lumper, der eine Theorie über die amerindischen Sprachen aufgestellt und in den 1980er Jahren viele Werke zu dem Thema veröffentlicht hat, war Joseph Greenberg. Er argumentierte, dass sich alle indigenen Sprachen in Nord- und Südamerika einer von drei Sprachfamilien zuordnen lassen: Amerind, Na-Dené und Eskimo-Aleutisch. Greenberg kam zu dieser Überzeugung, nachdem er einfache Begriffe in vielen Sprachen miteinander verglichen und Ähnlichkeiten gefunden hatte. Die Pronomen „ich“ und „du“ gehörten beispielsweise zu den verglichenen Begriffen, die er als Beweis heranzog.

Spracheichdu
Nahuatlno- mo-
Quechuañuqaqam
Aymaranayajuma
Yine-nopɨ-

Das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Gesamtübersicht. Aber es zeigt sich, dass die Wörter für „ich“ oft einen „n“-Laut haben, die Wörter für „du“ einen „m“-Laut. Greenberg und andere anerkannte Linguist:innen schlussfolgerten daraus, dass es eine einzelne Proto-Sprache gegeben haben musste, mit der (fast) alle indigenen Sprachen auf dem amerikanischen Kontinent verwandt sind.

Wörter, die sich über unterschiedliche Sprachen hinweg ähneln, können zwar ein stichhaltiges Argument für die Gruppierung von Sprachen sein. Aber Greenbergs Arbeit wurde rundweg abgelehnt. Fachleute sagen, dass Greenbergs gesamte Methodik fehlerhaft ist und Beispiele wie die aufgelisteten Pronomen statistisch nicht signifikant genug sind, um etwas zu beweisen oder zu widerlegen. Trotzdem wollen wir seine Arbeit hier erwähnen, weil sie von vielen Forschenden zitiert wurde bzw. wird und Greenberg dieses Forschungsgebiet nachhaltig geprägt hat.

Moderne Fachleute halten es für viel wahrscheinlicher, dass die amerindischen Sprachen Dutzende von Sprachfamilien umfassen. Die Non-Profit-Organisation The Native Languages of the Americas schätzt sie auf rund 25 bis 30, zusätzlich zu den nicht kategorisierten Sprachen und Sprachisolaten (die keine Familie haben). Die auf ihrer Website aufgeführten Sprachfamilien sind Algonquian, Arawak, Athapaskisch, Caddo, Cariban, Chibcha, Eskimo-Aleutisch, Golf, Hoka, Irokesisch, Kiowa-Tano, Macro-Ge, Maya, Muskogee, Otomangue, Pano, Penuti, Salish, Sioux, Tucano, Tupí, Uto-Aztekisch und Wakash.

Es ist schwierig, die genauen Mitglieder und Grenzen dieser Sprachfamilien zu bestimmen, da sich die Sprachlandschaft nach der Eroberung des Landes durch die Kolonialmächte so stark verändert hat oder ganz verschwunden ist. Sprachforschende versuchen zwar ihr Bestes, um die Entwicklung der Sprachen zu rekonstruieren, aber sie müssen sich dabei auf eine sehr unvollständige Beweislage stützen. 

Heute besteht die wichtigste Aufgabe der Forschenden, die sich mit den indigenen Sprachen Amerikas befassen, in deren Bewahrung. Ohne das gemeinsame Engagement von Gruppen wie The Native Languages of the Americas werden die meisten von ihnen in den nächsten Jahrzehnten aussterben. In manchen Fällen ist es also ein Wettlauf gegen die Zeit, diese Sprachen zu erforschen und am Leben zu halten.

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