Was haben mesopotamische Keilschrifttafeln, Luthers Bibel und dieser Artikel gemeinsam? Alle sind in irgendeiner Form von Schrift verfasst, auch wenn sich die jeweiligen Schriftsysteme stark voneinander unterscheiden. Die Kommunikation mithilfe von Schrift gehört zu den ältesten Kulturtechniken der Menschheit. Im Laufe der Jahrtausende hat die Geschichte der Schrift einen starken Wandel durchlaufen: von archaischen Vorläufern der Alphabetschrift, die hauptsächlich in Holz, Stein, Ton oder Knochen eingeritzt oder eingemeißelt wurden, über Schreib- und Druckerzeugnisse auf Papier bis hin zur entmaterialisierten Schrift im virtuellen Raum, wie wir sie heute größtenteils verwenden. In diesem Artikel betrachten wir die Geschichte der Schrift in Deutschland und erkunden, wie sie durch technische Innovationen, historische Persönlichkeiten und ideologische Strömungen maßgeblich beeinflusst wurde.
Die frühe Geschichte der Schrift: Vom Bild zum Buchstaben
Schriftsysteme entstanden an vielen Orten der Welt unabhängig voneinander, zunächst meist in Form von stilisierten Symbolen und Zeichen. Der Wechsel von piktographischen Zeichen zu einer tatsächlichen Schrift vollzog sich jedoch nicht in unseren Breitengraden, sondern in Mesopotamien, wo sich die Keilschrift um 2700 v. Chr. von einer Zeichen- zu einer Silbenschrift weiterentwickelte. Als eine der ältesten Alphabetschriften gilt die Phönizische Schrift (11. Jahrhundert v. Chr.), aus der sich das aramäische, hebräische und arabische Schriftsystem ableitete. Auch den Griechen diente die Schrift der Phönizier im 10 Jahrhundert v. Chr. als Grundlage für ihr griechisches Alphabet. Aus diesem entwickelten sich letztendlich alle europäischen Schriftsysteme, sowohl die lateinischen und kyrillischen Buchstaben als auch die Runen, die alten Schriftzeichen der Germanen. Diese wurden in Mitteleuropa etwa 100 – 150 Jahre lang vor allem als Kult- und Grabinschriften verwendet.
Lateinische Lettern
Die wahre Geschichte der Schrift in Deutschland im Sinne von regelmäßiger Schreibpraktik beginnt jedoch nicht mit den Runen, sondern mit dem lateinischen Alphabet, das sich im Zuge der Christianisierung Europas als Prestigeschrift durchsetzte. Das lateinische Alphabet bestand zunächst nur aus Großbuchstaben (Majuskeln), die später um Kleinbuchstaben (Minuskeln) ergänzt wurden, die sogenannte jüngere römische Kursive. Die Kleinbuchstaben, die wir auch heute noch benutzen, gehen auf die frühmittelalterliche karolingische Minuskel, auch Carolina genannt, zurück. Sie wurde etwa Mitte des 8. Jahrhunderts in einem Kloster im heutigen Nordfrankreich im Auftrag von Karl dem Großen entwickelt, der im Übrigen selbst nur über rudimentäre Schreibkenntnisse verfügte. Mithilfe dieser neu entwickelten Minuskelschrift, die sich durch ihr einfaches und klares Schriftbild auszeichnete, wollte Karl an die Bildungstradition der Antike anknüpfen und dem kulturellen Verfall seines Reiches entgegenwirken. Ein frühes Schriftstück, das in dieser Schrift verfasst wurde, sind die Merseburger Zaubersprüche aus dem 10. Jahrhundert n. Chr. Die beiden Zaubersprüche, die auf Figuren der germanischen Mythologie Bezug nehmen, wurden erst 1841 in der Bibliothek des Merseburger Domkapitels entdeckt. Sie sind bis heute die einzigen Schriftstücke in althochdeutscher Sprache, die einen heidnischen Inhalt haben.
In der Zeit der Gotik (12. Jahrhundert bis ca. 1500) löste die gotische Minuskel die Carolina als Handschrift ab. Im Gegensatz zur eher runden karolingischen Minuskel zählt sie zu den gebrochenen Schriften, bei denen die Bögen spitzwinklig „abbrechen“ und somit an die gotischen Spitzbögen in Kathedralen erinnern. Sie wurde später in kalligraphischer Form auch unter dem Namen Textura im Buchdruck eingesetzt.
Eine eindrucksvolle Erfindung, die die Geschichte der Schrift für immer veränderte
Als der Mainzer Johannes Gutenberg zwischen 1440 und 1457 den mechanischen Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand und somit zum Begründer der Typografie wurde, ahnte er wahrscheinlich noch nicht, dass er mit seiner Erfindung eine wahre Medienrevolution auslösen würde. Mittlerweile gilt der Buchdruck nach Gutenberg als Schlüsselelement der Renaissance und als wichtigste Erfindung des zweiten Jahrtausends. Er revolutionierte den bis dahin elitären Schriftgebrauch und demokratisierte die Schrifttechnologie: Nun konnten Ideen und Wissen mit relativ wenig Aufwand reproduziert werden (im Vergleich zum Abschreiben von Hand). Schnell ersetzte der Buchdruck in Europa und schließlich auf der ganzen Welt die handschriftliche Vervielfältigung von Büchern. Befeuert wurde der Erfolg des mechanischen Buchdrucks zudem durch das im 10. Jahrhundert nach Europa gelangte Papier, das durch technische Innovationen immer preisgünstiger produziert werden konnte. Für seine ersten Druckwerke nutzte Gutenberg die Textura (wir erinnern uns: eine kalligraphische, gebrochene Schrift), so auch in seiner berühmten Gutenberg-Bibel, die er in einer für damalige Verhältnisse Rekordzeit von zweieinhalb Jahren (1452-54) ganze 180 mal druckte.
Bibel, die Zweite
Nur knapp 70 Jahre später stand erneut eine Bibel im Rampenlicht der deutschen (Schrift-)Geschichte: Ein gewisser Dr. Martin Luther widmete sich 1521 dem ehrgeizigen Projekt, die Bibel aus dem Althebräischen und Aramäischen (Altes Testament) sowie dem Altgriechischen (Neues Testament) ins Frühneuhochdeutsche zu übersetzen – denn was nützte dem einfachen Volk eine Bibel, die zwar einfacher zu vervielfältigen, jedoch in einer ihm unverständlichen Sprache verfasst war? Mit seiner Übersetzung, die 1534 erstmals als Vollbibel erschien, trug Luther maßgeblich zu einer Vereinheitlichung der deutschen Schriftsprache bei. Auch wenn mehrere Ausgaben der Lutherbibel von 1522 in der gebrochenen Schwabacher Schrift gedruckt wurden, war es die Fraktur, die im Zuge der Reformation zum Inbegriff der deutschen Schrift wurde (nicht umsonst lautete die italienische Bezeichnung für Fraktur lettera tedesca, also „deutsche Schrift“). Die Frakturschrift (von lat. fractus, „gebrochen“) ist eine Spätform der gotischen Minuskel. Im deutschen Raum war die Fraktur bis in 20. Jahrhundert hinein die vorherrschende Schriftart. Zu erkennen ist sie übrigens am charakteristischen Elefantenrüssel an Majuskeln.
Für humanistische Texte verwendete man zu dieser Zeit hingegen die Antiqua (von lat. antiquus, „alt, einstig“), die im Zuge des Humanismus’ der Renaissance im 15. Jahrhundert in Italien entwickelt worden war. Antiqua-Schriften zeichnen sich durch runde Bögen und Serifen (die kleinen „Füßchen“ am Ende von Buchstabenstrichen) aus und waren so etwas wie eine Gegenschrift zur Fraktur. Was für uns lediglich wie eine Frage der Ästhetik anmutet, führte damals zwischen Fraktur- und Antiqua-Befürwortern zu einem Streit, dessen ideologisch behaftete Polemik bis zum Ende des Dritten Reiches bestehen blieb.
Schlicht ist schick
Das 18. Jahrhundert war in Deutschland das Jahrhundert der Aufklärung und der literarischen Blütezeit. Namhafte deutsche Schriftsteller wie Goethe, Schiller und Wieland legten Wert darauf, dass ihre Texte in Antiqua gedruckt wurden. Dies führte zu einem Wandel der typographischen Standards, der schlichtere Frakturschriften wie die Campe-Fraktur, die Breitkopf-Fraktur oder die Unger-Fraktur hervorbrachte. Um 1830 kam schließlich die biedermeierliche Normal-Fraktur auf, die mit der Reichsgründung 1871 zur offiziellen Amtsschrift des Deutschen Reiches erklärt wurde. Heute kaum mehr vorstellbar, aber wahr: Reichskanzler Otto von Bismarck lehnte es ab, eine in Antiqua verfasste wissenschaftliche Abhandlung zu lesen, weil er einen Text in deutscher Sprache auch mit deutschen Buchstaben gedruckt sehen wollte.
In den 10er und 20er Jahren des 20. Jahrhunderts kamen sogenannte konstruierte Grotesk-Schriften in Mode. Konstruierte Groteske bestehen aus serifenlosen, geometrischen Buchstaben und sind eng mit der Bauhausästhetik verknüpft. Die populärste konstruierte Grotesk des 20. Jahrhundert ist wohl die Futura, die 1928 von Paul Renner entworfen wurde: Große Firmen wie Volkswagen und Ikea nutzten sie lange in abgewandelter Form für ihr Corporate Design, auch mehrere Logos der Parteien im Deutschen Bundestag sind in Futura gesetzt.
Typographie und Ideologie
Im Einklang mit den sonstigen Ereignissen wird auch die Geschichte der Schrift im Nationalsozialismus des 20. Jahrhunderts zum dunklen Kapitel. In Deutschland und auch in Europa kam es zu einem regelrechten typologischen Kahlschlag, da viele Schriftarten verboten wurden. Ein besonderes Schicksal ereilte die Fraktur: Sah man sie zu Beginn der NS-Zeit noch als Ausdruck des Deutschtums und instrumentalisierte sie für Propagandazwecke, so wurde sie 1941 in einem Verdikt ebenso wie die Schwabacher als „Judenschrift“ bezeichnet und verboten. Als Normalschrift galt im Deutschen Reich fortan die Antiqua.
Der wirkliche Grund für diesen Paradigmenwechsel war wahrscheinlich eher pragmatischer Natur, da sich die Antiqua aufgrund ihrer schnörkellosen Form besser dazu eignete, deutsche Propagandaschriften im Ausland zu verbreiten. Damit war das Schicksal der Fraktur weitgehend besiegelt, denn auch nach Ende des Dritten Reiches führte sie allenfalls in Form von Zeitungslogos ein Nischendasein.
Vom Material zu digital
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs veränderten Neuerungen im Bereich der Informatik die Geschichte der Schrift grundlegend. So zog die revolutionäre Erfindung des Internets die Entstehung einer Typografie für digitale Texte, der sogenannten Webtypografie, nach sich. Es wurden Webfonts speziell für das Lesen am Bildschirm geschaffen, wie zum Beispiel Tahoma (1995) und Verdana (1996) von Matthew Carter.
Heute ist unsere Schrift weitgehend entmaterialisiert und existiert unabhängig von Trägermaterialien größtenteils nur noch im virtuellen Raum. Auch wenn dies einen weiteren Schritt in Richtung Demokratisierung der Schrift und des Zugangs zu Informationen darstellt, sorgt diese Entwicklung weiterhin für Diskussionsmaterial, wie man am Diskurs über die Abschaffung der Schreibschrift in finnischen Schulen beobachten kann. So streiten wir uns in Zukunft vielleicht nicht mehr darum, ob Antiqua oder Fraktur die bessere Schriftart ist, sondern ob ein E-Reader oder ein gedrucktes Buch den höheren Lesegenuss beschert.
Fakt ist: Ohne digitalisierte Schrift wäre auch digitales Lernen nicht möglich – und du hättest diesen Artikel höchstwahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen!