Beeinflussen Sprachen unsere Persönlichkeit?

Ist man in anderen Sprachen eine andere Person? Ein persönliches Essay über das Suchen und Finden der eigenen Sprachpersönlichkeit.
two expressions of one girl, one mad and one timid, reacting to an older man cutting in line - Beeinflussen Sprachen unsere Persönlichkeit?

Illustration: Daniel Marin Medina

Ein verregneter Morgen beim Bäcker am Bahnhof in Wien, ich bin wie immer zu spät dran, aber zum Glück ist nur eine Kundin vor mir an der Reihe. Während meine Vorfreude auf die ofenfrische „Topfengolatsche” wächst, kommt ein älterer Herr herein. Anstatt sich hinten anzustellen, geht er direkt zur Theke und bestellt bei der soeben frei gewordenen Verkäuferin. Entgeistert starre ich ihn an und in meinem Kopf formt sich meine Entrüstung: „Heast Oida, bist deppat?“[1] Aber der Satz verlässt nie meine Lippen. Ich bleibe stumm und ärgere mich nur innerlich. 

Hätte sich die Szene in Peking abgespielt, hätte ich den Vordrängler reflexartig mit einem lauten „别加塞儿!“[2] in die Schranken gewiesen. Denn ich bin sowohl mit Deutsch als auch mit Chinesisch aufgewachsen. Meine Eltern sind mit mir nach Österreich gezogen, als ich vier war. Während wir zu Hause weiterhin Chinesisch sprachen, wurde Deutsch bald zu meiner zweiten „Muttersprache“. Doch auf Deutsch bleibe ich ein Mäuschen. Egal wie oft ich mir vornehme, beim nächsten Mal endlich meinen Mund aufzumachen: Ich traue ich mich dann doch nicht, wenn es schließlich darauf ankommt. Warum bin ich auf Deutsch nur so schüchtern, während ich auf Chinesisch kein Problem damit habe, fremde Leute anzusprechen, direkt zu sein, mich zu beschweren? Warum beeinflusst die Sprache mein Verhalten? 

Warum bin ich auf Deutsch nur so schüchtern, während ich auf Chinesisch kein Problem damit habe, fremde Leute anzusprechen, direkt zu sein, mich zu beschweren? Warum beeinflusst die Sprache mein Verhalten? 

Ich hatte nie Schwierigkeiten mit der Sprache meiner neuen Heimat, aber es fiel mir schon immer schwer, mit Menschen, die mir nicht vertraut waren, zu sprechen. Als altkluger Teenager versuchte ich mich mit meiner Schüchternheit abzufinden – wer braucht schon Partys und Small-Talk? Doch als ich im Alter von sechzehn ein Jahr als Austauschschülerin in Peru verbrachte, entdeckte ich zu meiner Überraschung, dass ich auf Spanisch plötzlich mit Leichtigkeit Gespräche beginnen konnte! Meine Freude über mein neues, extrovertiertes Ich nahm jedoch ein jähes Ende, als ich wieder nach Wien zurückkam: Mit dem Alltag auf Deutsch kehrte auch meine Schüchternheit zurück. Verändert die Sprache etwa die Persönlichkeit?

Auf zahlreichen Reisen in den darauffolgenden Jahren fiel mir auf, dass ich, sobald ich Englisch oder Spanisch sprach, selbstbewusster, positiver und kontaktfreudiger wurde. Eigenschaften, von denen ich mir bis heute manchmal wünschte, dass mein deutschsprachiges Ich ein bisschen mehr davon besäße. Und was mein chinesischsprachiges Selbst angeht, so ist die Sache noch einmal komplizierter – es mussten Jahre vergehen, bis mir bewusst wurde, wie die Sprache meine Persönlichkeit beeinflusst und wie anders ich in der Sprache meiner Eltern ticke …

Doch verändert sich mein Charakter wirklich in den unterschiedlichen Sprachen oder sind es nur die kulturellen Codes, die ich unbewusst wiedergebe? Nehmen wir mit einer neuen Sprache automatisch die Werte und Umgangsformen der jeweiligen Kultur an? Bereits Ende des 18. Jahrhunderts, in der Zeit der deutschen Romantik, kamen Gelehrte wie Wilhelm von Humboldt und Johann Georg Hamann zu der Ansicht, dass es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Sprache und Mentalität gäbe. Für Humboldt war die Diversität der Sprachen eine Diversität der Weltanschauungen und infolgedessen jede Sprache ein Ausdruck des Geistes ihrer Nation.

Im 20. Jahrhundert entwickelte sich daraus das sogenannte linguistische Relativitätsprinzip, besser bekannt als „Sapir-Whorf-Hypothese”. Die Sprachwissenschaftler Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf versuchten zu belegen, dass unser Denken und unsere Realitätswahrnehmung abhängig von der Grammatik und dem Wortschatz unserer Muttersprache sei. Dafür nahm Whorf die indigene Hopi-Kultur als Beispiel, in deren Sprache es angeblich keinen Ausdruck für Zeitformen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gäbe und darum eine andere Vorstellung von Zeit vorherrsche. Sein Verständnis für die Hopi-Sprache stellte sich zwar schlussendlich als falsch heraus, doch die grundlegende Idee, dass Sprache unser Denken und Fühlen beeinflusst, inspirierte nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Literatur.

Das erinnert mich an den englischen Debütroman der chinesischen Autorin Guo Xiaolu: In A Concise Dictionary for Lovers sinniert sie über die Zeitlosigkeit der Liebe auf Chinesisch. Verben werden in ihrer Muttersprache nicht konjugiert, darum bleibe „ai“ (Liebe) einfach immer „ai“. Auf Englisch allerdings ist „to love“ keine konstante Form. „love“ kann sich durch Grammatik in „loved“ verwandeln. Hat Liebe darum auf Englisch bereits ein vorgegebenes Ablaufdatum? Obwohl mir normalerweise romantisierte und exotisierende Vorstellungen von Sprachen und Kulturen zuwiderlaufen, berührt mich dieser Gedanke. Kann man wirklich auf unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich fühlen?

Als Teenager lauschte ich in den Sommerferien in China gerne den Gesprächen meiner Tanten. Oft ging es dabei um die Liebe und dass man als Chinesin einfach anders fühle. Ich erinnere mich, dass ich in diesen Momenten zustimmend nickte und glaubte zu wissen, was sie damit meinten: ein bittersüßer Schmerz, geprägt von Selbstaufopferung und Resilienz, umhüllt von Seide und unterlegt mit einer Bambusflötenmelodie. (Ich habe definitiv zu viele historische Seifenopern in den Sommerferien geschaut.) Wenn ich mir jetzt allerdings vorstelle, dass dieses Gespräch auf Deutsch stattgefunden hätte, hätte ich wohl die Nase gerümpft und mit einem zynischen Kommentar geantwortet. Doch warum erscheint mir dieses Gefühl auf Chinesisch bis heute als etwas Faszinierendes, geradezu Erstrebenswertes, wenn doch irgendwo in meinem Gehirn eine rationale Stimme auf Deutsch aufschreit, das Ganze sei eine klischeehafte und patriarchale Vorstellung von chinesischen Frauen?

Eine kurze Internetrecherche ergibt, dass ich nicht alleine bin mit meinen wechselhaften Persönlichkeiten und widersprüchlichen Werten: Zahlreiche Studien konnten bereits aufzeigen, dass zwei- oder mehrsprachige Menschen tatsächlich unterschiedliche Charakterzüge und sogar Wertvorstellungen aufweisen, die sich der jeweiligen Kultur der Sprache anpassen.[3] Unterschiedliche Sprachen können demnach in Zusammenhang mit verschiedenen Arten zu denken und auch zu fühlen gebracht werden. So ist zum Beispiel in Sprachen wie dem Japanischen, wo Personalpronomen wie „ich“ oder „du“ ausgespart werden, das individuelle Bewusstsein schwächer ausgeprägt als das Gruppenbewusstsein. [4]

Zahlreiche Studien konnten bereits aufzeigen, dass zwei- oder mehrsprachige Menschen tatsächlich unterschiedliche Charakterzüge und sogar Wertvorstellungen aufweisen, die sich der jeweiligen Kultur der Sprache anpassen.

Was aber war zuerst da? Entsteht Sprache als Ausdruck der Kultur oder umgekehrt? Beides ist auf jeden Fall untrennbar miteinander verbunden: Wenn wir eine neue Sprache lernen, erlernen wir nicht nur neue Wörter und Grammatik, sondern auch ihre kulturellen Codes. Es reicht nicht, auf Chinesisch oder Japanisch „Danke“ sagen zu können, weil „xie xie“ und „arigatou“ nicht die gleiche Universalität wie ihr deutsches Äquivalent besitzen. Höflichkeit und Dankbarkeit werden je nach Kontext anders ausgedrückt. In der eigenen Familie zum Beispiel würde es eher befremdlich wirken, sich ständig mit „xie xie“ zu bedanken, denn es vermittelt eine gewisse Distanziertheit. Wohingegen man auf Deutsch schnell als unhöflich wahrgenommen wird, wenn man sich nicht für den Salzstreuer bedankt, den man am Esstisch herüber gereicht bekommt.

Menschen stehen immer in Beziehung zueinander. Wir passen unsere Sprache und unser Verhalten an, um verstanden zu werden und als Teil einer Gruppe wahrgenommen zu werden. Ich bin dankbar, dass ich durch unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Seiten meiner Persönlichkeit kennenlernen konnte. Und dadurch sogar die Möglichkeit habe, verschiedene Arten der Weltanschauung nachvollziehen zu können. Doch als jemand, der zwischen zwei Kulturen aufgewachsen ist und sein ganzes Leben lang versucht hat, sich anzupassen, um dazuzugehören, beschäftigt mich heute eine weitere Frage: Habe ich Charakterzüge wie Schüchternheit und Zurückhaltung angenommen, weil ich sie als Teil der deutschsprachigen österreichischen Kultur empfunden habe oder sind das nicht eher die klischeehaften Charaktereigenschaften, die meine Außenwelt von einem asiatisch-gelesenen Mädchen erwartet hat? Habe ich mich in diese Rolle drängen lassen, um nicht aufzufallen? Wäre ich vielleicht eine andere Person geworden, wenn ich in China geblieben wäre – ohne das ständige Bedürfnis, mich anzupassen?

Nachdem ich diese Fragen wohl niemals beantworten kann, werde ich mich an den positiven Seiten meiner Mehrsprachigkeit erfreuen – oder wie ich „erfreuen“ auf Chinesisch sagen würde: 开心 (kai xin) – sein Herz öffnen. 

[1] Wienerisch für „Hey Alter, spinnst du?“
[2] Chinesisch für „Nicht vordrängen!“
[3] N. Ramírez-Esparza et al. (2006):Do bilinguals have two personalities? A special case of cultural frame switching.” In Journal of Research in Personality 40, 99–120. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0092656604000753
[4] Kashima, Y. (2020). “Language and language use.” In R. Biswas-Diener & E. Diener (Eds), Noba textbook series: Psychology. Champaign, IL: DEF publishers. http://noba.to/gq62cpam

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