Illustration von Chaim Garcia
Fremdsprachen zu lernen ist nicht immer einfach, aber es kann leichter werden, wenn du dir vor dem Lernen klar machst, dass verschiedene Sprachen unterschiedliche Herangehensweisen erfordern. Für einen deutschen Muttersprachler wäre Japanisch beispielsweise deutlich schwerer zu erlernen als Englisch – denn aufgrund ihrer Sprachgeschichte haben Deutsch und Englisch einige Gemeinsamkeiten, die du ausnutzen kannst. Wie, das erfährst du in diesem Artikel.
1. Der Apfel fällt nicht weit vom Wortstamm
Dass verwandte Sprachen viele Wörter gemeinsam haben, ist wahrscheinlich der größte Vorteil, wenn du eine Sprache lernst, die deiner Muttersprache ähnelt. Ein Vergleich des englischen und deutschen Grundwortschatzes zeigt schnell, dass beim Lernen neuer Wörter kein allzu großer Aufwand nötig ist: mother/Mutter, father/Vater, water/Wasser, three/drei, beer/Bier, fish/Fisch, butter/Butter, warm/warm… die Liste könnte noch lange weiter geführt werden.
Mithilfe von Wortstämmen kannst du deinen Lernaufwand noch weiter verringern, indem du neue Wörter in ihre Einzelteile zerlegst: Hinter dem englischen friend ist das deutsche „Freund“ noch leicht zu erkennen, und somit sind die etwas komplexeren zusammengesetzten Wörter friend-ship („Freundschaft“), friend-ly („freundlich“), friend-li-ness („Freundlichkeit“) oder to be-friend („sich anfreunden“) auch kein großes Problem mehr! Wie du siehst, bedeutet es einen viel geringeren Lernaufwand, den Aufbau von Wörtern zu verstehen und sich nur die Wortstämme einzuprägen, als jedes einzelne Wort auswendig zu lernen.
In manchen romanischen Sprachen wie Portugiesisch und Spanisch ist die Ähnlichkeit des Wortschatzes sogar noch größer: cerveja/cerveza („Bier“), dois/dos („zwei“), comer/comer („essen“) und pronunciar/pronunciar („aussprechen“) sind nur einige Beispiele. In der Tat ist die Sprachverwandtschaft so groß, dass manche Leute der Meinung sind, Sprecher des Spanischen beziehungsweise Portugiesischen beherrschten die jeweils andere Sprache automatisch, ohne sie jemals gelernt zu haben. Leider ist das nicht ganz korrekt, aber man wird mit Kenntnissen der einen Sprache in der anderen zumindest verstanden.
2. Trenne die falschen Freunde von den echten – und nutze die falschen Freunde gehörig aus
Genau wie im wahren Leben musst du aber leider auch beim Sprachenlernen die echten Freunde (Wörter, die gleich aussehen und das Gleiche bedeuten) von den falschen Freunden (Wörter, die gleich aussehen, aber verschiedene Bedeutungen haben) trennen. Ein klassisches Beispiel für einen deutsch-englischen falschen Freund ist das Paar gift/Gift. Wenn du auf Englisch ein gift bekommst, ist die Chance, dass du dich darüber freust, sehr viel größer, als wenn du es auf Deutsch bekommst – ein englisches gift ist nämlich ein „Geschenk“.
Solche Fälle können natürlich zu einer Menge Verwirrung führen – aber nur, wenn du es zulässt! Dass ein bestimmtes Wort in einer anderen Sprache etwas völlig anderes bedeuten kann, ist manchmal so lustig und absurd, dass du es dir genau deswegen leichter merken kannst. Das Erste, was ich über die spanische Sprache gelernt habe, ist einer der berühmtesten falschen Freunde, den es zwischen Spanisch und brasilianischem Portugiesisch gibt:
Sobrenome (Portugiesisch: „Nachname“) ist das Äquivalent zu apellido (Spanisch: „Nachname“), wohingegen das portugiesische apelido („Spitzname“) auf Spanisch sobrenombre („Spitzname“) heißt. Für mich als Muttersprachler des brasilianischen Portugiesisch war das so seltsam und erstaunlich, dass ich es nie vergessen habe.
3. Nutze ähnliche grammatische Strukturen
Zusammengesetzte Wörter
Die Grammatik einer anderen Sprache kann auf den ersten Blick erschlagend und fremdartig wirken, aber bei genauerer Betrachtung lassen sich auch hier Gemeinsamkeiten finden. Schauen wir uns zum Beispiel die Reihenfolge von Bausteinen in Komposita an. Auf Englisch und Deutsch steht das „starke“ Nomen immer an letzter Stelle. In romanischen Sprachen wie Portugiesisch und Spanisch ist es genau umgekehrt:
Deutsch: Zahnpasta
Englisch: toothpaste
Portugiesisch: pasta de dente
Spanisch: pasta de dientes
Wohin mit den Adjektiven?
Ähnlich verhält es sich mit der Stellung von Adjektiven: Auf Englisch und Deutsch stehen diese vor dem Nomen, das sie beschreiben. Im Spanischen und Portugiesischen stehen sie generell nach dem Nomen:
Deutsch: der blaue Himmel
Englisch: the blue sky
Portugiesisch: o céu azul
Spanisch: el cielo azul
Kleine Partikeln mit großer Wirkung
Englische phrasal verbs (Verb + Partikel) und deutsche trennbare Verben sind ein weiteres Beispiel für Ähnlichkeiten in der grammatischen Struktur. Sie sind zwar nicht genau dasselbe, aber es ist erkennbar, dass beide ähnlich funktionieren: Ein Partikel modifiziert ein Verb und gibt ihm damit eine neue Bedeutung.
Auf Englisch kann blow („blasen“) zu „explodieren“ werden, wenn man ein up hinzufügt. Auf Deutsch wird aus sagen schnell absagen, zusagen oder durchsagen – und alle bedeuten etwas anderes.
Viele Lichtblicke am Horizont
Beim Blick auf Deutsch und Englisch fallen noch weitere Gemeinsamkeiten auf: Zum Beispiel die Tatsache, dass beide Sprachen bestimmte und unbestimmte Artikel verwenden, die Benutzung von Modal- und Hilfsverben und das besitzanzeigende Genitiv-S. Es mag dir vielleicht trivial vorkommen – aber das ist genau der Punkt! Stell dir vor, du müsstest erst mühsam erlernen, wann du einen bestimmten oder unbestimmten Artikel verwendest oder ob überhaupt ein Artikel angebracht ist. Nun führe dir vor Augen, wie oft du Artikel verwendest. Und jetzt kannst du das Thema Artikel getrost wieder beiseitelegen, denn dank der Sprachverwandtschaft des Englischen mit dem Deutschen stellt dieser Aspekt für dich kein Problem dar.
4. Mach dir ähnliche Laute zunutze
Um eine Sprache zu sprechen, ist es notwendig zu verstehen, wo und wie ihre Laute produziert werden. Phoneme ändern sich zwar von Sprache zu Sprache, liegen aber bei verwandten Sprachen näher beieinander: Für einen deutschen Muttersprachler sind englische Phoneme einfacher zu verstehen – und zu reproduzieren – als chinesische, bei denen viel von der Betonung abhängt, oder in Hindi, wo es einen Unterschied macht, ob ein Laut aspiriert („angehaucht“) ausgesprochen wird oder nicht. Für jemanden, der Portugiesisch spricht, ist es demnach einfacher, etwas auf Spanisch zu wiederholen, als deutsche Wörter zu reproduzieren.
Natürlich gibt es immer Ausnahmen: Spanischsprecher haben es oft schwerer, die nasalen Laute zu reproduzieren, die dem brasilianischen Portugiesisch seinen eleganten Klang verleihen. Auch für englische Muttersprachler ist es nicht gerade einfach, deutsche Wörter wie Streichholzschächtelchen auszusprechen. Generell ist die Ähnlichkeit von Sprachen bei der Aussprache aber von Vorteil. Probier es doch mal selbst aus: Hör dir englische Wörter an und versuche, sie nachzusprechen. Jetzt versuche, etwas auf Chinesisch zu wiederholen. Und, was war leichter?
5. Trainiere dein Gehirn, Dinge aus dem Kontext heraus zu verstehen
Du hast also bereits die ersten paar Lektionen abgeschlossen und verstehst deine Lernsprache schon recht gut (schließlich ist sie deiner ja sehr ähnlich) – Zeit, einen Film ohne Untertitel (oder mit Untertiteln in Originalsprache) zu schauen! Alles läuft gut, bis ein Wort kommt, das du noch nicht gelernt hast. Jetzt nur keine Panik! Viele Anhaltspunkte können dir dabei helfen, Wörter zu verstehen, die du noch nicht kennst: der Kontext des Wortes und die Situation, in der es verwendet wird; Gesichtsausdruck und Tonlage des Sprechers; Reaktionen der Zuhörer und – natürlich – Ähnlichkeiten zu deiner eigenen Sprache. Wörter in einem vertrauten Zusammenhang zu erkennen ist recht einfach: Häufig kann man den Inhalt des Gesagten verstehen, ohne zwangsläufig jedes einzelne Wort verstehen zu müssen.
6. Stell dich immer wieder neuen Herausforderungen
Wenn du dich dafür entscheidest, eine Sprache zu lernen, die deiner Muttersprache ähnlich ist, dann solltest du schneller Resultate sehen, als wenn du eine Sprache lernst, bei der du dir jeden Erfolg mühsam erarbeiten musst.
Das solltest du aber nicht als Entschuldigung dafür nehmen, weniger zu üben! Im Gegenteil: Zieh einen Vorteil daraus und versuche, deine Ziele schneller zu erreichen. Stell dich immer wieder neuen Herausforderungen – solchen, die auch realistisch sind. Kleinere Ziele funktionieren normalerweise besser: Lieber lernst du in einer Woche, im Restaurant zu bestellen, als in einem Monat zu versuchen, ein flüssiges Gespräch auf die Reihe zu bekommen. Sehr ambitionierte Ziele sind normalerweise zu vage und führen schneller zu Frustration.
Versuche, die oben genannten Tipps anzuwenden, und du wirst schnell merken, dass kompliziert aussehende Verwandte deiner Muttersprache viel einfacher zu lernen sind, als anfangs gedacht.