Während Akzente und Dialekte in der Sprachwissenschaft hinreichend bekannt und erforscht sind, geben uns so manche Jargons nach wie vor Rätsel auf – und das ganz absichtlich. Die sowohl als Kryptolekt, Argot oder sogar Anti-Sprache bezeichneten Jargons werden vorrangig von marginalisierten Bevölkerungsgruppen entwickelt, um ihre Geheimnisse zu wahren und die Gruppendynamik zu schützen und so ihr Überleben zu sichern.
Verschiedene gesellschaftliche Gruppen haben diese Jargons und Gaunersprachen aus unterschiedlichen Gründen entwickelt. Die bekanntesten stammen von Kriminellen, die versuchen, ihre Gespräche geheim zu halten. Aber auch das englische Pig Latin (wörtlich: Schweinelatein) – eine Spielsprache, bei der man den ersten Buchstaben jedes Wortes nimmt, ihn ans Ende setzt und ein „ay“ hinzufügt – ist eine Art von Jargon. Im Folgenden stellen wir vier der berühmtesten Kryptolekte der Geschichte vor und zeigen dir, wie sie funktionieren.
Geheimsprachen: 1. Thieves’ Cant
Die auch als rogues‘ cant oder peddler‘s French bekannte Gaunersprache wurde von Kriminellen entwickelt, um zu verhindern, dass die Polizei und die Gesellschaft im Allgemeinen ihre Unterhaltungen verstehen. Schriftlich wurde die Sprache erstmals im 16. Jahrhundert im elisabethanischen England erwähnt. Der Magistrat Thomas Hartman stellte damals eine der ersten schriftlichen Beobachtungen von thieves‘ cant zusammen, die er gesammelt hatte, indem er Bettlern Geld und Essen als Gegenleistung für Informationen über ihren Kryptolekt anbot. 1811 erschien das erste umfassende Wörterbuch des thieves‘ cant: das Dictionary of the Vulgar Tongue: A Dictionary of Buckish Slang, University Wit and Pickpocket Eloquence. Auch wenn heute nur noch wenige Menschen thieves‘ cant sprechen, gehören neben Begriffen wie cloy („stehlen”) und game („Raubüberfall”) auch Wörter wie jail bird („Gefängnisinsasse”) und pig („Bulle“) zu diesem Jargon, von denen die beiden letzteren auch heute noch verwendet werden.
Kleines Wörterbuch des Thieves‘ Cant
- bawd – Prostituierte
- birds of a feather – Mitglieder einer Bande
- fagger – Junge, der klein genug ist, um durch ein Fenster in ein Haus einzusteigen und es von innen zu öffnen
- flog – peitschen
- hike – weglaufen
- lift – stehlen
- palaver – Ausrede für ein begangenes Verbrechen, um der Strafe zu entgehen
- pound – Gefängnis
- prig – Dieb
- rap – Meineid
- rascal – Gangster oder Bösewicht
- rat – Informant
- shoplifter – Ladendieb
- sham – Trick, Betrug
- slang – thieves‘ cant
- to squeak – etw. gestehen (oder ugs.: singen)
- swag – Beute
Obwohl viele Wörter weiterhin benutzt werden – und der Wortschatz der kriminellen Unterwelt um neue Begriffe erweitert wurde – wird die Sprache nicht mehr so verwendet wie einst. Doch thieves‘ cant lebt in dem Wunsch der Menschen fort, den Vorschriften der Mehrheitsgesellschaft zu entgehen und ihre Gemeinschaft vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen.
2. Der Cockney Rhyming Slang
Die Kirche St. Mary-le-Bow im Londoner East End ist das Epizentrum der Cockney-Kultur – oder jedenfalls war sie es einmal. Die Gegend, in der im 19. Jahrhundert der Cockney Rhyming Slang entstand, wurde von verschiedensten Kulturen aus der ganzen Welt erobert und längst hört man hier nicht mehr ausschließlich die nasalen Laute und Glottisschläge von Michael Caine oder Adele. Dennoch erzählt der Slang die Geschichte einer Subkultur, die ihre eigene Sprache entwickelt hat. Der Cockney Rhyming Slang entstand, um zu verhindern, dass diejenigen, die den Jargon sprachen, von Außenstehenden verstanden wurden.
Der Slang spielt mit verkürzten und fehlenden Reimen. So reimt sich zum Beispiel face („Gesicht”) mit boat race („Bootrennen”). Von Letzterem wird das zweite Wort weggelassen, sodass nur boat („Boot”) übrig bleibt. Im Cockney Rhyming Slang falle ich also nicht mehr auf mein face – oder mein boat race – sondern auf mein boat. Ein weiteres Beispiel: Statt He is on the phone, also „Er telefoniert gerade“ wird das Wort für „Telefon“, also phone, durch einen Reim ersetzt: He is on the dog and bone. Dann wird bone („Knochen”) weggelassen, sodass schließlich dog („Hund”) übrig bleibt: He is on the dog.
Cockney Rhyming Slang: Ein paar Beispiele
Ausdruck | Cockney Rhyme | Ursprünglicher Begriff |
“They never do anything, just rabbit!” | rabbit and pork | talk = Gerede |
“My plates are killing me!” | plates of meat | feet = Füße |
“My trouble phoned me yesterday.” | trouble and strife | wife = Ehefrau |
“She’s my skin.” | skin and blister | sister = Schwester |
“He’s my treacle.” | treacle tart | sweetheart = Schatz, Liebling |
“Have you got any Veras?” | Vera Lynn (berühmte Sängerin) | gin oder skin = hier: Zigarettenpapier |
“I’ve just bought an expensive whistle!” | whistle and flute | suit = Anzug |
3. Polari
Sexuell ausgegrenzte Gesellschaftsgruppen entwickeln oft ihren eigenen Slang, aber in England entstand sogar ein vollwertiger, allgemein anerkannter Jargon, der auch Einzug in die Popkultur des 20. Jahrhunderts fand. Der Ursprung von Polari – gelegentlich auch Parlari genannt (Italienisch für „sprechen“) – ist kompliziert und möglicherweise älter, als gemeinhin angenommen. Sicher ist, dass der Jargon um 1800 zu einem nennenswerten kulturellen Phänomen wurde, im 20. Jahrhundert zwischen dem Prozess gegen Oscar Wilde und den 1960er Jahren seinen Höhepunkt erreichte und in den 1970er Jahren schließlich an Bedeutung verlor.
Polari wurde außerdem mit der Handelsmarine, Reisenden und Zirkusleuten assoziiert. Einige Schriftstellende unterscheiden zwischen Parlyaree und Polari, wobei letzteres ausschließlich von Homosexuellen gesprochen wird, die sich der Sprache bedienen, um der Kontrolle und Zensur durch die Mehrheitsgesellschaft zu entgehen. Es setzt sich aus Lehnwörtern aus dem Italienischen, Jiddischen und Englischen (darunter auch aus Dialekten wie dem Cockney Rhyming Slang) zusammen, hinzu kommen Einflüsse aus den Slangs des Zirkusmilieus und der Sinti und Roma.
Streng genommen ist Polari kein Dialekt, weil er im Grunde nur bestimmte Begriff durch andere ersetzt. Nehmen wir zum Beispiel den Satz: „How bona to vada your dolly old eek!“, was so viel bedeutet wie: „Schön, dein hübsches, altes Gesicht zu sehen!“ Hier steht bona für „gut“, vada für „sehen“, dolly für „hübsch, schön“ und eek für „Gesicht“. Weite Verbreitung fand diese Art zu reden Mitte der 60er Jahre durch die BBC-Radioshow Round the Horne mit den Schauspielern Hugh Paddik und Kenneth Williams in den Rollen von Julien und Sandy. Die Show war voll mit Anspielungen, und die beiden schwulen Protagonisten spielten ihre Charaktere auf sehr übertriebene Art und Weise. Langsam gewöhnte sich das Publikum an den Jargon, was dazu führte, dass Polari aus dem Untergrund in den Mainstream aufstieg. Gleichzeitig wurde er von der wachsenden liberalen schwulen Szene abgelöst. Mit der Legalisierung der Homosexualität in England im Jahr 1967 entstand eine neue offene Kultur der sexuellen Selbstbehauptung und Sichtbarkeit. Polari, einst eine Überlebensstrategie für eine ganze Gesellschaftsgruppe, hatte daher seine Daseinsberechtigung verloren.
Polari wird schon seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet. Doch während die Baby-Boomer-Generation den Jargon gerne hinter sich gelassen hätten, erfährt er gerade unter Millenials ein echtes Revival: Clubs wie Madame JoJo’s in London ermutigen ihre Mitarbeitenden, mit ihren Gästen Polari zu sprechen. So soll mit der Vorstellung aufgeräumt werden, dass es so etwas wie eine schwule Szene nicht gibt und dass die Sprache lediglich das Produkt einflussreicher gesellschaftlicher Gruppen ist.
Polari wurde mitunter auch als Anti-Sprache bezeichnet. Anti-Sprachen ermöglichen nicht nur eine verschlüsselte und geheime Kommunikation – die man als Kryptolekt bezeichnen könnte – sondern haben auch eine identitätsstiftende Funktion. Denn im oft bissigen Tonfall von Polari finden sich häufig kritische Anspielungen gegenüber Mitgliedern der staatlichen Institutionen (z. B. Polizei und Justiz), anderen Gesellschaftsgruppen (Heterosexuelle) oder auch gegenüber religiösen Einrichtungen. Wenn du dich für Polari interessierst, gibt es verschiedene Apps, mit denen du den Jargon lernen kannst. Polari scheint Teil einer zeitgenössischen kulturellen Bewegung zu sein, die eine verloren gegangene Tradition zurückgewinnen und längst vergessene Rituale wiederaufleben lassen will.
Wie auch immer man dazu steht, jetzt weißt du wenigstens, was der Titel des Morrissey-Albums „Bona Drag“ wirklich bedeutet.
Nützliche Polari-Begriffe
- bona – gut
- drag – Kleidung
- vada – sehen
- eek – Gesicht
- dolly – hübsch, angenehm
- riah – Haar
- slap – Make-up
- fantabulosa – fantastisch + fabulös
- dish – Tratsch oder attraktiv
- handbag– Geld
4. Verlan
Auch im Französischen haben sich diverse Jargons, sogenannte argots, entwickelt, von denen der wohl berühmteste Verlan ist. Hier werden die Silben von Wörtern miteinander vertauscht, sodass ein gebrochenes Spiegelverhältnis entsteht.
Verlan wird in der Regel mit den jugendlichen Migrant:innen- und Arbeiter:innenmilieus der Vororte von Paris, den banlieues, in Verbindung gebracht. Die Methode ist jedoch nicht wirklich neu. Gottfried von Straßburg, der im 12. Jahrhundert den Tristan, seine Interpretation der Legende von Tristan und Isolde, schrieb, kommt durchaus als „Erfinder“ von Verlan in Frage. In seiner Version der Legende reist die Hauptfigur inkognito nach Irland. Zur Tarnung nannte er sich Tantris – eine Umkehrung der beiden Wortsilben (Tris-tan wird zu Tan-tris). Ein paar Jahrhunderte später hat sich die Idee des Silbentausches etabliert.
Die erste schriftliche Aufzeichnung der kollektiven – und nicht nur individuellen – Verwendung von Verlan geht auf inhaftierte Kriminelle in Frankreich im 19. Jahrhundert zurück, die sich mit Hilfe des Jargons untereinander verständigten, ohne dass Gefängniswärter und andere Machtpersonen die jeweiligen Informationen aufschnappten. In den 1970ern durchbrach der Slang die Gefängnismauern und wurde von Rap-Bands aus den banlieues verwendet. In den 1980ern wurde Verlan schließlich auch in anderen Jugendkulturen populär, als benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene sich mit dem Jargon verständigten.
Selbst der Name ist bereits das Ergebnis einer Silbenumkehrung: l’envers („umgekehrt“) wird zu vers-l’en, vereinfacht verlan. Aber nicht nur der Aufbau der Wörter wird hier verändert, sondern oft auch deren Bedeutung. So wurde beispielsweise das Wort für „Frau“, femme, zu meuf: (me + fem → mef (em) → meuf). Auch wenn das vielleicht nicht das beste Beispiel ist, wird der Ausdruck ma meuf heute mit „meine Freundin“ oder „mein Mädchen“ übersetzt, während ma femme mittlerweile eher für „meine (Ehe-)Frau“ steht.
Ein weiteres Beispiel für ein Wort, das in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen ist: ouf, Verlan für fou (verrückt). Dieses wird gerne benutzt, um eine verrückte, abgefahrene Nacht oder Party zu beschreiben. Hat diese Nacht für Kopfschmerzen gesorgt, kann man das mit vénère (énervè → „genervt”) zum Ausdruck bringen.
Verlan | Französisch | Deutsch |
zarbi | bizarre | bizarre |
laisse béton | laisse tomber | Lass es gut sein / Vergiss es |
chelou | louche | komisch, merkwürdig |
relou | lourd | „schwer“ (eine nervige, anstrengende Person) |
chanmé | méchant | fantastisch, unglaublich (während méchant „gemein“ bedeutet) |
ripou | pourri | faul, vergammelt |
beur | arabe | arabisch |
teuf | fête | Party |
Interessanterweise hat sich Verlan in den letzten Jahren noch einmal verändert. Durch seinen Einzug in den Mainstream haben einige Wörter ihren Reiz verloren. Deshalb gibt es nun Re-verlan! Einige Wörter werden nun erneut umgedreht (!), damit sie weiterhin scharf und bissig klingen.
Französisch | Verlan | Re-Verlan | Deutsch |
arabe | beur | rebeu | arabisch |
flic | keuf | feuck | „Bulle“ |
Re-verlan ist der Versuch, eine Subkultur vor der Übernahme durch den Mainstream zu bewahren. Aber das ist schwer zu erreichen, wenn man mit einem Klick im Internet Zugang zu immer neuen Subkulturen hat und wenn Google für rebeu unzählige Ergebnisse liefert – von denen allerdings nicht alle mit gutem Gewissen am Arbeitsplatz verwendet werden können!
Eigentlich sollte man annehmen, dass alle Wörter auf diese Weise umgedreht werden können, aber Verlan funktioniert nicht für alle Begriffe. Eine berühmte Werbung der französischen Bahngesellschaft SNCF enthielt beispielsweise den Slogan c’est blessipo, Verlan von c‘est possible („es ist möglich“). Doch dieser Versuch ist kläglich gescheitert, denn niemand würde das wirklich sagen.
5. Rotwelsch
Auch dieser deutschsprachige Jargon wurde von eher armen, marginalisierten Gruppen entwickelt. Er entstand im Laufe des 17. Jahrhunderts in den Reihen von Berufen, die von der spätmittelalterlichen Gesellschaft geächtet wurden: beim sogenannten fahrenden Volk, innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, der die meisten handwerklichen Berufe verboten waren, und unter Sinti und Roma.
Die Herkunft des Begriffs Rotwelsch ist nicht ganz geklärt. Er taucht in der Form rotwalsch bereits im 12. Jahrhundert auf und bezeichnet so etwas wie unehrliche Rede. Von Außenstehenden wurde er teilweise als abwertender Begriff genutzt, aber auch die Sprecher verwendeten ihn als Eigenbezeichnung.
Rotwelsch baut auf einer Vielzahl von Sprachtechniken auf, hauptsächlich auf Entlehnungen aus dem Westjiddischen, den Sprachen der Sinti und Roma sowie aus dem Niederländischen und Französischen. Oft findet auch eine Bedeutungsverschiebung deutscher Wörter statt, oder es werden Wörter neu zusammengesetzt, zum Beispiel durch das Vertauschen von Silben, wie bei Verlan .
Heute ist Rotwelsch kaum noch als eigenständige Mundart zu finden. Viele seiner Begriffe sind dafür in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen.
Kleines Rotwelsch-Wörterbuch
Rotwelsch | Deutsch | Herkunft |
ausbaldowern bzw. baldowern | auskundschaften | jiddisch baal: „Herr“, und jiddisch dowor: „Sache, Wort“, also: „Herr der Sache“, baal davar |
Bock | Hunger, Gier, Lust | romani bokh: „Hunger“ |
Bulle | Polizist | niederländisch bol: „Kopf, kluger Mensch“ |
Kachny | Huhn | romani kaxni, kahni: „Huhn“ |
kaspern | herumalbern | vom Substantiv „Kasper“ abgeleitet |
Kober | Wirt | jidd. kowo, kübbo: „Schlafkammer, Bordell, Hütte, Zelt“ |
Was auch immer man über Jargons denken mag – ob sie die sprachliche Integrität zerstören oder sie bereichern – sie werden ein Teil von Sprache sein, solange es gesellschaftliche Untergruppen, Subkulturen und Kreativität gibt.