Haben die Inuit wirklich 50 Wörter für Schnee?

Du wirst staunen, welch komplizierte Geschichte hinter dieser simplen Behauptung steckt.
Verschneite Siedlung zum Thema Inuit Wörter für Schnee

Es gibt bestimmte Kindheitsmythen, die sich auf jedem Pausenhof hartnäckig halten: Schluckauf bedeutet, eine andere Person denkt an dich. Oder nach dem Verschlucken von Obstkernen wächst ein Baum in deinem Bauch. Solche oder so ähnliche Sätze haben wir alle schon einmal in unserer Kindheit gehört. Wenn man älter wird, stellt man fest, dass kaum etwas davon wahr ist. Dann gibt es aber auch Fälle, die irgendwo zwischen wahr und falsch liegen. So ist es auch bei einer der wohl am weitesten verbreiteten Schulhofweisheiten: Das Volk der Inuit hat 50 Wörter für Schnee.

Hinter dieser harmlos erscheinenden und vielleicht sogar erfreulichen Aussage („Ach, wie schön!“) stecken jedoch eine Reihe pauschaler Annahmen. In diesem Artikel gehen wir der Behauptung auf den Grund und erläutern, woher sie kommt und welche Auswirkungen sie hat.

Du wirst feststellen, dass wir den Namen Inuit verwenden, obwohl im Zusammenhang mit der Behauptung, die wir hier beleuchten, häufig eine andere Bezeichnung verwendet wird. Diese Bezeichnung hat jedoch einen rassistischen Ursprung und wird von vielen Inuit als abwertend wahrgenommen, weshalb wir ihn hier vermeiden.

Woher kommt die Behauptung, die Inuit hätten 50 Wörter für Schnee?

Zunächst einmal sollten wir erwähnen, dass es mehr als eine Version dieses Satzes gibt. Du hast vielleicht auch schon gehört, dass es 30 Wörter für Schnee gibt, oder 100, 200 oder gar 400. Das ist so ähnlich wie mit der Geschichte vom Fischer, dessen Fang bei jeder Erzählung größer wird. 

In der ursprünglichen Behauptung war überhaupt keine spezifische Zahl genannt. Sie geht auf Franz Boas zurück, einen Anthropologen, der in den 1880er Jahren im Norden Kanadas lebte und das Verhalten und die Sprache der Inuit studierte. Im Jahr 1911 veröffentlichte er das Handbook of American Indian Languages, in dem er an einer Stelle erwähnt, dass die Inuit eine interessante Vielfalt an Begriffen für Schnee haben: „Da gibt es zum Beispiel das Wort aput, das SCHNEE AUF DEM BODEN ausdrückt; ein anderes, qana, bedeutet FALLENDER SCHNEE; ein drittes, piqsirpoq, steht für SCHNEEWEHE; und ein viertes, qimuqsuq, für FLUGSCHNEE.“

Wie du sicher bemerkt hast, werden nur vier Beispiele genannt. Also deutlich weniger als 50. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen wurde diese Zahl in den folgenden Jahrzehnten jedoch immer mehr aufgebläht. Eine wissenschaftliche Arbeit der Linguistin Laura Martin verfolgt die Entwicklung dieser Behauptung zurück. Benjamin Lee Whorf, ein Linguist, der mit Boas‘ Arbeit sehr vertraut war, machte die Behauptung in den 1940er Jahren populär, ließ aber auch viele Details von Boas außen vor. Whorf führte keine konkreten Daten an, sondern stützte sich auf die Tatsache, dass die Inuit mehr als einen Begriff für Schnee hatten, um die Theorie zu untermauern, für die er heute bekannt ist: die Sapir-Whorf-Hypothese. Diese Theorie besagt, dass die Sprache, die man spricht, die Art und Weise beeinflusst, wie man die Welt sieht (und sie ist größtenteils widerlegt worden). Whorf nutzte Boas‘ Behauptung, um zu zeigen, dass die Inuit irgendwie anders sind, weil sie so viele Wörter für Schnee haben.

Nachdem Whorf sie in die Welt gesetzt hatte, tauchte die Behauptung schließlich überall auf. In angesehenen Lehrbüchern der Linguistik wurde sie als Fakt zitiert, und in den 1970er Jahren war die Zahl der Wörter, die die Inuit angeblich für Schnee verwenden, auf 50 angewachsen. Während diese Behauptung anfangs vor allem von Studierenden aufgenommen wurde, wurde sie in den 1980er Jahren auch in der allgemeinen Öffentlichkeit populär, nachdem in einem Meinungsartikel der New York Times beiläufig erwähnt wurde, dass die Inuit tatsächlich 100 Wörter für Schnee haben. Seitdem wird dies allgemein als Fakt angesehen, obwohl nur wenige Menschen wirklich geprüft haben, ob es stimmt.

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Haben die Inuit 50 Wörter für Schnee?

Man sollte meinen, dass sich diese Frage mit dem richtigen Wörterbuch leicht beantworten ließe – schließlich muss man darin doch nur die Einträge für Schnee zählen, oder? Ganz so einfach ist es nicht. Und die Behauptung, dass die Inuit 50 Wörter für Schnee haben, ist so weit verbreitet, dass sich die Suche nach der richtigen Antwort eher schwierig gestaltet.

Zunächst einmal muss man wissen, dass es mehr als eine Inuit-Sprache gibt. Boas warf bei seinen Forschungen einige verwandte Sprachen in einen Topf. Allgemein von den „Inuit“ zu sprechen, war also eine starke Vereinfachung, bei der keine konkrete Sprache gemeint war.

Im Jahr 2013 hat die Washington Post einen Artikel veröffentlicht, in dem es hieß, dass die Schnee-Behauptung laut jüngster Forschungsergebnisse des Linguisten Igor Krupnik tatsächlich wahr ist. Der Linguist Geoffrey Pullum, der sich seit Langem mit der Behauptung, die Inuit hätten 50 Wörter für Schnee, auseinandersetzt, nahm den Artikel jedoch auseinander. Das Hauptproblem bestand für ihn darin, dass die Washington Post angab, Boas habe die Behauptung aufgestellt, die Inuit hätten Dutzende Wörter für Schnee. Das stimmt allerdings nicht. Er geht auch auf einige andere Falschdarstellungen in dem Artikel ein.

Der Hauptgrund dafür, dass es schwierig ist, die Inuit-Wörter für Schnee zu beziffern, besteht darin, dass die Inuit-Sprachen agglutinierend sind. Das bedeutet, dass man zur Bildung eines neuen Wortes bestehende Teile zusammensetzt. Theoretisch könnte es also unendlich viele Wörter für Schnee geben, weil man immer wieder neue erfinden kann. Boas‘ ursprüngliche Beobachtung bezog sich nicht auf die Anzahl der Wörter, sondern auf die Anzahl der Wortwurzeln. Ein Beispiel: „Schule“ und „Vorschule“ sind zwei verschiedene Wörter, die aber denselben Wortstamm haben. Die Inuit-Sprachen haben mehr als eine Wortwurzel für „Schnee“, während das Deutsche nur eine hat. Sie haben aber mit Sicherheit keine 50 Wortwurzeln für Schnee.

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Welchen Einfluss hat diese Behauptung auf uns?

Was bedeutet es, wenn man mehr als ein Wort für einen Begriff hat? Meistens scheint man sich auf diese Behauptung zu berufen, um zu zeigen, dass Sprachen mehrere Wörter für einen Begriff erfinden, wenn ihnen dieser Begriff sehr wichtig ist. Es gibt eine gängige Formulierung, die lautet: „Wenn die Inuit 50 Wörter für Schnee haben, dann muss [Gruppe] 50 Wörter für [Konzept, das der Gruppe wichtig ist] haben“. Zum Beispiel: „Wenn die Inuit 50 Wörter für Schnee haben, dann müssen die Franzosen 50 Wörter für Romantik haben“.

Diese Denkweise ist so weit verbreitet, dass Geoffrey Pullum, einer der oben erwähnten Linguisten, ein Wort dafür fand: snowclone. Snowclone ist eine Klischeevorlage für nichtssagenden Phrasen, die häufig in Artikeln verwendet werden. Beispiele dafür sind „[X] ist das neue Schwarz“ und „Liebe in Zeiten von [X]“.

Einerseits stimmt es natürlich, dass sich der Wortschatz einer Person zu einem bestimmten Thema erweitert, wenn sie sich mehr mit diesem Thema beschäftigt. Zu jedem Nischenhobby gehört eine gewisse Fachsprache, die für Außenstehende vollkommen unverständlich ist.

Andererseits ergibt sich mit der Behauptung, die Inuit hätten 50 Wörter für Schnee, ein Problem: Sie erweckt den Anschein, als würde eine einzige Inuit-Person eine Reihe verschiedener, austauschbarer Wörter für dasselbe Konzept verwenden. Und das ist einfach nicht der Fall. Zwar gibt es in jeder Sprache Synonyme, aber Sprachen neigen dazu, sparsam zu sein. Sehr selten bedeuten zwei Wörter genau das Gleiche, und mit Sicherheit bedeuten niemals 50 Wörter genau das Gleiche. „Die Inuit haben Wörter für verschiedene Arten von Schnee“ klingt hingegen einfach nicht so gut.

Es ist unwahrscheinlich, dass diese Schulhofweisheit jemals ganz aussterben wird, denn sie hat sich in unserer Sprache festgesetzt. Im besten Fall ist das irreführend. Und im schlimmsten Fall erwecken solche Behauptungen den Eindruck, dass Menschen, die andere Sprachen sprechen, anders oder seltsam sind. Ein solides Vokabular für die uns umgebende Welt zu haben, ist jedoch alles andere als seltsam. Wenn du also das nächste Mal mitbekommst, wie jemand Behauptungen aufstellt, von denen du das letzte Mal in deiner Kindheit etwas gehört hast, lohnt es sich, diese zunächst einmal auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.

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