Das schwedische „Hen“ ist nicht mehr wegzudenken: Die Erfindung des geschlechtsneutralen Pronomens und sein Erfolg

Im Schwedischen wurde lange Zeit zwischen dem männlichen Pronomen „han“ und dem weiblichen Pronomen „hon“ unterschieden. Mit dem schwedische „hen“ ändert sich das gerade.
Schwedische Flagge zum Thema Geschlechtsneutrales Pronomen „hen"

Dies ist die Geschichte eines ganz besonderen Neologismus, also einer Wortneuschöpfung, die zwar aus dem Schwedischen kommt, aber Finnland zum Vorbild hatte: das geschlechtsneutrale Pronomen hen. Dieses kleine Wort – geliebt, gehasst, vieldiskutiert und weltweit bekannt – ist zu einem Symbol Schwedens geworden, als Vorreiter in Sachen Gendergerechtigkeit und LGBTQ-Rechte. Doch welchen Einfluss hat dieses Wort wirklich? Ist es nur ein Trend oder wird es sich durchsetzen? Und welche Bedeutung kann einem Wort letztlich zukommen? Hier erfährst du mehr über Geschichte, Einfluss und Bedeutung des schwedischen Pronomens hen.

Inklusion und grammatisches Geschlecht

Ähnlich wie das inklusive englische Pronomenthey“, das für den Singular (wie auch „he/she“) verwendet wird, hat der Gebrach des geschlechtsneutralen hen im Schwedischen in den letzten Jahren stark zugenommen. Vorbild ist das finnische Pronomen hän, das sich auf jede:n beziehen kann, da Finnisch eine geschlechtsneutrale Sprache ist.

Anders als im Finnischen gibt es im Schwedischen zwei grammatische Geschlechter – das „gemeinsame“ und das „neutrale“ – die aber nicht dem biologischen Geschlecht entsprechen. Die Substantive für Mann und Frau haben sogar das gleiche grammatische Geschlecht. Doch ähnlich wie im Deutschen werden die Menschen mit unterschiedlichen Pronomen bezeichnet: han („er“) und hon („sie“).

So wie die meisten Sprachen, die Substantive oder Pronomen nach Geschlecht unterteilen, muss sich auch das Schwedische mit dem generischen Maskulinum (das Geschlecht, das alle einschließen und für alle stehen soll) auseinandersetzen. Das verdeutlichen Sätze wie:„Wenn der Kunde eine Rückerstattung wünscht, sollte er sich an den Kundendienst wenden“. Das Problem ist, dass solche Aussagen zunehmend als nicht inklusiv angesehen werden. Wenn du kein Mann bist, kannst du nie genau wissen, ob das er dich auch mit einschließen soll oder ob es nur um Männer geht. Wenn das sie in der gleichen Weise verwendet wird, führt das wiederum bei Männern oft zu Verwirrung. Ein Sprachsystem, in dem es binäre Pronomen gibt, macht es außerdem Menschen schwer, die sich weder als er noch als sie identifizieren.

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Geschlechtsneutrales Pronomen: Eine kurze Geschichte des schwedischen Hen

Das schwedische hen soll genau diese beiden Probleme lösen. Aber macht es wirklich Sinn, ein neues Pronomen zu erfinden und Menschen zu motivieren, es zu verwenden? In Schweden war der Weg, um hen in die Alltagssprache einzuführen zwar etwas steinig, aber auch überraschend kurz.

Das Wort hen wurde vermutlich in den 1960er Jahren geprägt, als der Sprachwissenschaftler Rolf Dunås in einer Lokalzeitung die Notwendigkeit eines geschlechtsneutralen Pronomens erörterte. In den folgenden Jahrzehnten wurde hen eigentlich nur in kleinen akademischen Kreisen und aktivistischen Gruppen verwendet, die sich mit Genderfragen und queeren Theorien auseinandersetzten. Das Wort verbreitete sich erst 2012 in der Bevölkerung. Auslöser war die Veröffentlichung eines Kinderbuchs, in dem der Autor seine Charaktere ausschließlich mit hen statt han und hon bezeichnete.

Das Buch entfachte eine Debatte, die bis heute nicht abgeschlossen ist (wie bei den meisten politischen Debatten). Viele sahen in dem Pronomen eine Bedrohung für die derzeitige Weltordnung, in der Männer Männer sein müssen und Frauen Frauen. Behörden, Medien und ein Sprachrat (wie in diesem Fall der Språkrådet) waren besorgt, dass die Verwendung des schwedischen hen nur als queer-politisches Statement verstanden werden könnte und somit von der eigentlichen Botschaft ablenken würde. Einige konservative Medienunternehmen entschieden sich, hen nicht zu verwenden. Progressivere Medienunternehmen reagierten, in dem sie ausschließlich hen verwendeten. Und so verbreitete sich das kleine Wort wie ein Lauffeuer. Schließlich haben wir es hier mit einem kleinen, hoch digitalisierten und trendbewussten Land zu tun, das sich selbst als fortschrittlich und innovativ bezeichnet. All diese Faktoren haben zweifellos eine große Rolle gespielt, als es darum ging ein neues geschlechtsneutrales Pronomen in den normalen Sprachgebrauch zu integrieren.

Das Pronomen hen: Vorreiter einer gender-neutralen Zukunft?

Denk mal an all die neuen Wörter, die du in den letzten Jahren in deinen Wortschatz aufgenommen hast. Fallen dir ein paar ein? Ok, sehr gut. Die Wörter, die dir einfallen, haben wahrscheinlich mit Technologie, dem Internet oder der Globalisierung unserer Welt zu tun. Doch sie haben bestimmt auch Folgendes gemeinsam: Sie sind Substantive, Verben oder Adjektive. Das sind die so genannten offenen Wortklassen. Das mag auf den ersten Blick nur für Grammatik-Nerds interessant klingen, doch die Tatsache, dass in eine Sprache ein neues Personalpronomen eingeführt wird, ist schließlich etwas, dass nur … nun ja, alle 500 Jahre oder so vorkommt. Das allein könnte schon darauf hinweisen, dass hen sich langfristig durchsetzen wird, aber wir können es nicht mit Sicherheit wissen, da es so neu ist. Sprachwissenschaftler:innen können zum Beispiel untersuchen, wie oft das Pronomen aktuell verwendet wird und versuchen, daraus Schlüsse zu ziehen.

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Im Jahr 2018 wurden han und hon 133 Mal öfter als hen verwendet. Im Jahr 2012, als die Debatte begann, lag diese Zahl noch bei 416. Im Jahr davor, als hen noch im Schatten der beiden binären Pronomen stand, lag die Zahl sogar bei 13.000. Das wäre wohl für jedes Wort eine ziemlich außergewöhnliche Entwicklung, aber sie ist besonders beeindruckend für ein Wort, das zu einer geschlossenen Wortklasse gehört.

Wer sich schwedische Nachrichten genauer anschaut, wird schnell erkennen, dass das Pronomen eine Funktion für den Autor oder die Autorin hat, insbesondere wenn das Geschlecht einer Person unbekannt oder unwichtig ist. Der oder die Kranke, ein Zeuge oder eine Zeugin, der oder die Angestellte, der oder die Gesuchte, der oder die Anhänger:in des Fundamentalismus: Das sind Substantive aus ein paar kürzlich erschienenen Online-Nachrichtenartikeln, die durch hen ersetzt wurden. Diese Beispiele zeigen, wie hen verwendet werden kann, um das Geschlecht neutraler zu machen, ihm weniger Gewicht zu verleihen und den Textfluss nicht durch Umformulierungen wie han eller hon, han/hon oder vederbörande (was „er oder sie“, „er/sie“ beziehungsweise „die betreffende Person“ bedeutet) zu unterbrechen. Hen ist inzwischen im alltäglichen Sprachgebrauch angekommen: Fast jeder versteht es und es lenkt nicht von der eigentlichen Botschaft ab. Das ist eine wichtige Voraussetzung, um als Neologismus erfolgreich zu bestehen.

Es wird weiterhin wahrscheinlich meist von einer bestimmten Gruppe von Menschen verwendet, die auch die gleichen Grundwerte teilen. Hen wird vermutlich auch eher von jüngeren Generationen und im urbanen Raum benutzt. Doch das Wort wird noch längst nicht von allen akzeptiert und verwendet. Einige Personen befürchten immer noch, dass ein geschlechtsneutrales Pronomen alle Unterschiede zwischen Männern und Frauen auslöschen könnte (Übrigens ja etwas, das in Finnland sozusagen Alltag ist und funktioniert.).

Ein Wort mit drei Buchstaben kann relativ viel ausrichten. Doch es kann die Welt nicht verändern, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Es kann allerdings dazu beitragen, Geschlechterklischees zu hinterfragen, sich kritisch mit den eigenen Verhaltensweisen und Gendervorstellungen auseinanderzusetzen und die Alltagssprache inklusiver zu gestalten.

Viele schätzen das schwedische hen aus genau diesen Gründen und hoffentlich erkennen die meisten anderen auch, was für eine wichtige Rolle das Pronomen für nicht-binäre Menschen spielt.

Vielleicht ist das auch genau das, was ein Wort ausmacht: der praktische Nutzen, den es in der Kommunikation erfüllt. Und wenn hen das Leben vieler Menschen erleichtert hat, dann glauben wir, dass es auch verdient hat, für immer zu bleiben.

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