Die dravidischen Sprachen, die hauptsächlich im Süden Indiens gesprochen werden, geben Sprachforschenden echte Rätsel auf – vor allem, wenn es darum geht, woher diese Sprachen stammen. Doch eins ist klar: Dravidische Sprachen spielen eine wichtige Rolle in der Kultur Südasiens, wo sie von sehr vielen Menschen gesprochen werden. Zeit, sich diese mysteriöse, aber einflussreiche Sprachfamilie genauer anzusehen.
Dravidische Sprachen: Welche gehören dazu?
In der Welt von heute gibt es rund 70 Sprachen, die zu dieser Sprachfamilie gehören. Die am häufigsten gesprochenen Vertreter sind Telugu, Tamil, Kannada und Malayalam. (Kleine Info am Rande: Malayalam ist die einzige Sprache auf der Welt, deren Name ein Palindrom ist – also von vorne wie von hinten gelesen dasselbe Wort ergibt).
Diese Sprachen werden zwar vor allem in Südindien gesprochen, es gibt sie aber auch in Sri Lanka und – weniger häufig – in Nepal und Pakistan. Ein weiteres Mysterium der dravidischen Sprachen ist, dass sie mit keiner anderen Sprachfamilie in Indien bzw. in ganz Südasien verwandt sind. Ein Fakt, der Linguist:innen seit langem Kopfzerbrechen bereitet. Woher stammen also dravidische Sprachen? Und sind sie mit einer anderen Sprachfamilie verwandt, die es heute noch auf der Erde gibt?
Manche Sprachforschende glaubten, dass die Urahnin der modernen dravidischen Sprachen mit einer oder mehreren Sprachen aus der uralischen Sprachfamilie verwandt war. Diese Theorie wurde aber weitestgehend verworfen. Andere wiederum glauben, dass sie Teil einer größeren „Makrofamilie“ ist, und sehen Bezüge zu den indoeuropäischen, uralischen, afroasiatischen, südkaukasischen und manchen altaischen Sprachen. Das wäre ein ganz schön großer Stammbaum. Aber es gibt nicht genügend Belege für diese Idee. Es sieht also so aus, als würde der genaue Ursprung der dravidischen Sprachen auch weiterhin ein Rätsel bleiben.
Wie viele Menschen sprechen eine dravidische Sprache?
Zurzeit gibt es rund 215 Millionen Menschen, die eine dravidische Sprache als Erstsprache sprechen. Die meisten von ihnen leben in Südindien und Sri Lanka, einige auch in Pakistan und Nepal. Die am häufigsten gesprochene Sprache aus dieser Familie ist Telugu. Mit rund 82 Millionen Sprechenden ist Telugu nach Hindi und Bengali die dritthäufigste Sprache in Indien. Dann kommt Tamil mit rund 75 Millionen Sprechenden. Kannada und Malayalam (lies es doch nochmal rückwärts!) werden jeweils von ca. 45 Millionen Menschen gesprochen. Alle übrigen dravidischen Sprachen machen weniger als 7 % der Sprachen in dieser Sprachfamilie aus.
Bei den vier am weitesten verbreiteten dravidischen Sprachen gibt es außerdem kleine, aber wichtige Communitys in der Diaspora, zum Beispiel in Singapur, Malaysia, Myanmar, auf den Philippinen, in Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien, Norwegen, Schweden, Dänemark, dem Vereinigten Königreich, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar, Saudi Arabien, Kuwait, im Oman, in Bahrain, Südafrika, Kanada und den USA.
Warum eigentlich „dravidische“ Sprachen?
Interessanterweise ist der Begriff „dravidisch“ kein dravidisches Wort. Er stammt aus dem Sanskrit, der indoeuropäischen Sprache, von der der Großteil der übrigen modernen indischen Sprachen abstammt. Im Sanskrit heißt das Wort drāviḍa, vermutlich eine Verballhornung des tamilischen Worts damiḷa. Letzteres bezeichnet die tamilischen Menschen, die zwischen dem 4. und dem 7. Jahrhundert in Südindien lebten. Das Wort wurde dann irgendwann zu drāviḍa „sanskritisiert“.
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Wie ähnlich sind sich dravidische Sprachen?
Man könnte leicht glauben, dass jemand, der eine dravidische Sprache spricht, auch alle übrigen Sprachen aus dieser Familie versteht. Das ist aber leider nicht der Fall. Es gibt zwar Ähnlichkeiten, aber auch sehr viele Unterschiede zwischen den Sprachen.
Schauen wir uns doch einfach einmal die Schriftsysteme der einzelnen Sprachen an: Alle dravidischen Sprachen verwenden Varianten der brahmanischen Schrift, deren Ursprung auf das 3. Jahrhundert v. Chr. zurückgeht. Danach haben sie sich aber sehr unterschiedlich weiterentwickelt. Von den vier am häufigsten gesprochenen dravidischen Sprachen haben Telugu und Kannada das ähnlichste Schriftsystem. Deshalb können Sprechende einer der beiden Sprachen die andere auch fast problemlos lesen.
Auch in puncto Grammatik lassen sich einige allgemeine Dinge über die Mitglieder dieser Sprachfamilie feststellen. So sind die meisten dravidischen Sprachen agglutinierend (wie zum Beispiel die uralischen und die tibetischen Sprachen). Das bedeutet, dass grammatikalische Beziehungen durch mehrere Suffixe dargestellt werden können, anstatt wie zum Beispiel im Englischen durch Präpositionen. Ein anderes gemeinsames grammatikalisches Merkmal der dravidischen Sprachen ist, dass sie oft die Wortfolge Subjekt – Objekt – Verb verwenden. Im Deutschen (und in den meisten indoeuropäischen Sprachen) verwenden wir Subjekt – Verb – Objekt.
Und schließlich gibt es noch ein ziemlich einzigartiges Merkmal in den dravidischen Sprachen: die sogenannten negativen Verben. Man kann also von jedem beliebigen Verb die Verneinungsform bilden, indem man einfach eine Endung anhängt oder die Konjugation ändert. Auch das haben viele dravidische und uralische Sprachen gemeinsam – deshalb auch die (mittlerweile verworfene) Theorie, dass sich diese beiden Familien früher einmal stark beeinflusst haben.
Schauen wir uns als Nächstes ein paar Wörter an, um zu sehen, wie ähnlich sich dravidische Sprachen sind. Auf der Suche nach Ähnlichkeiten ist es, wie bei jeder anderen Sprachfamilie, immer eine gute Idee, einen Blick auf das Zahlensystem zu werfen. Wir haben die Ziffern 1 bis 5 in den vier am häufigsten gesprochenen dravidischen Sprachen verglichen:
Telugu | Tamil | Kannada | Malayalam | |
1 | okati | onru | ondu | onnu |
2 | rendu | irantu | eradu | randu |
3 | mūdu | mūnru | mūru | mūnnu |
4 | nālugu | nānku | nālku | nālu |
5 | ayidu | aintu | aidu | añcu |
Wie wir sehen, sind die Ziffern in Tamil, Kannada und Malayalam sehr ähnlich. In Telugu lassen sich zwar Ähnlichkeiten erkennen, aber im Großen und Ganzen sind die Ziffern sehr anders. Der Grund: Die ersten drei Sprachen gehören zum südlichen Zweig der dravidischen Sprachen, während Telugu eine Sonderstellung einnimmt und zum süd-zentralen Zweig gehört.
Auch wenn die Ursprünge der dravidischen Sprachen vielleicht für immer im Dunkeln verborgen bleiben – ihr Einfluss auf die übrigen Sprachen in Südindien lässt sich nicht leugnen. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Sprachlandschaft in der Region und darüber hinaus.