Spracherwerbstheorien: Wie erwerben wir Sprachen?

Ein kurzer Überblick über ein paar Theorien zum Erst- und Zweitspracherwerb.
Kleinkind schaut ein Bilderbuch an_Spracherwebstheorien

Die Sprache ist vielleicht das bedeutendste Konzept, das den Menschen vom Rest des Tierreichs unterscheidet. Klar: Auch manche Tiere sind in der Lage, komplex miteinander zu kommunizieren, zum Beispiel Delfine, Vögel usw. aber kein Tier kommt an die Fähigkeiten des Homo sapiens heran. Kein Wunder also, dass den Menschen seit Jahrtausenden die Frage umtreibt, wie wir Sprache eigentlich lernen. Wie ist es möglich, dass Babys nur wenige Jahre brauchen, um sich ganz flüssig zu unterhalten und nicht mehr zu brabbeln?

Von der griechischen Antike bis heute haben sich viele Theorien zum Spracherwerb entwickelt. In diesem Artikel schauen wir uns einige dieser Theorien genauer an – manche haben sich definitiv als falsch erwiesen, andere werden noch heute heißt diskutiert.

Die Arten des Spracherwerbs

Je nach den Umständen gibt es drei verschiedene Arten des Spracherwerbs. Wir werden uns besonders auf die erste konzentrieren, möchten aber darauf hinweisen, dass sich der Ausdruck auf verschiedene Arten beziehen kann.

  • Erwerb der Erstsprache – das ist die erste Sprache, die ein Mensch lernt, oder die Muttersprache.
  • Erwerb der Zweitsprache – auch wenn es „Zweitsprache“ heißt, bezieht sich der Begriff auf jede Sprache, die du nach der kritischen Phase des frühen Lernens erlernst.
  • Bilingualer Spracherwerb – ähnlich wie der Erstspracherwerb, nur dass ein Kind dabei mehr als eine Sprache gleichzeitig lernt, was übrigens sehr oft vorkommt.

Der Zweitspracherwerb ist zwar ein wichtiges Forschungsgebiet, aber der Erstspracherwerb lässt sich als Konzept schwieriger erklären. Während jemand, der eine Zweitsprache lernt, das Konzept von Übersetzung und Grammatik schon begreift, muss ein Baby alles von null auf lernen. Aber wie genau funktioniert das eigentlich?

Theorien zum Erstspracherwerb

Angeborenes Wissen

Um diese Theorie zu erklären, gehen wir weit zurück und zwar ins fünfte Jahrhundert vor Christus, als der Philosoph Platon die These vom angeborenen Wissen aufstellte. Er ging davon aus, dass der Mensch mit vielen Konzepten im Kopf geboren wird und es beim Lernen weniger darum geht, sich neue Ideen anzueignen, sondern sich an die zu erinnern, die wir bereits haben. Nach dieser These braucht eine Person also keine Sprache zu „erwerben“, weil diese bereits Teil der Gehirnfunktion ist. Obwohl Platon die westliche Philosophie um viele wichtige Ideen bereichert hat, ist seine Vorstellung vom angeborenen Wissen von der modernen Neurowissenschaft weitgehend widerlegt worden. Trotzdem spielen Teile dieser These in einflussreichen Sprachtheorien immer noch eine Rolle.

Cartesianische Linguistik

Diese Theorie ist nach René Descartes benannt und ihr Hauptgedanke ist, dass alle Sprachen dieselbe Grundstruktur haben. Diese Struktur muss zwangsläufig etwas in der Funktionsweise des Gehirns widerspiegeln – sie ist also nicht völlig von der Idee des angeborenen Wissens losgelöst. Der Linguist Noam Chomsky hat diese Idee weitergedacht. Mehr dazu erfährst du weiter unten.

Tabula rasa

Die Idee, dass der Mensch eine Tabula rasa ist, also ein unbeschriebenes Blatt, haben schon viele Denkerinnen und Denkern bis hin zu Aristoteles formuliert. Aber die moderne Auffassung wurde vor allem von dem Philosophen John Locke, der im 17. Jahrhundert lebte, geprägt. Im Grunde ist diese Theorie das genaue Gegenteil der Theorie vom angeborenen Wissen, denn sie besagt, dass das Gehirn bei der Geburt komplett formbar und der Mensch somit ein reines Produkt seiner Umgebung ist.

Die Theorie des Behaviorismus

Der Vordenker des modernen Behaviorismus ist B. F. Skinner. In seinem Buch Verbal Behavior führt er seine Ideen aus, die im Wesentlichen eine Erweiterung der Idee der Tabula rasa sind: Der Mensch ist ein Produkt seiner Umwelt. Für Skinner gibt es kein angeborenes System, mit dem sich der Mensch Wissen aneignet. Vielmehr lernen wir von den „Inputs“, die wir bekommen. Oder anders gesagt: Wir sind in der Lage, die gesprochene Sprache um uns herum zu imitieren und langsam unsere Grammatik und unseren Wortschatz aufzubauen.

Die Universalgrammatik

Noam Chomsky, der Denker, der hinter der Idee einer Universalgrammatik steht, kritisierte den Behaviorismus und B. F. Skinner scharf. Einer seiner Hauptkritikpunkte ist, dass es Menschen schlicht unmöglich ist, eine Sprache so schnell zu lernen – es sei denn, es gibt eine Art angeborener Grammatik. Er nennt das „poverty of the stimulus“, also Armut des Stimulus: Der Mensch kann durch reines Zuhören keine Sprache lernen und beherrschen.

Auf dem Gebiet der Linguistik haben Chomskys Ideen immer noch einen großen Einfluss, aber sie sind nicht unumstritten: Manche Linguist:innen lehnen nur bestimmte Teile ab, andere dagegen halten die Idee einer Universalgrammatik für komplett hinfällig. In jüngster Zeit hat das Phänomen der chatbasierten KI dazu geführt, dass manche Linguist:innen Chomskys Theorie infrage stellen. Einige Forschende sind der Meinung, dass große Sprachmodelle in der Lage sind, Sprache sehr überzeugend zu produzieren – und zwar ganz ohne innewohnendes Sprachwissen. Allerdings lässt sich darüber diskutieren, ob menschliche und künstliche Intelligenz überhaupt vergleichbar sind …

Theorien zum Zweitspracherwerb

Das Erlernen einer Erst- und einer Zweitsprache hat zwar einige Gemeinsamkeiten. Es gibt aber auch klare Unterschiede. Wenn du Spanisch lernst, lernst du zwar, dass el carro „der Wagen“ bedeutet. Aber es ist etwas ganz anderes herauszufinden, dass sich „das Auto“ auf das Konzept eines Autos selbst bezieht. Chomskys Universalgrammatik lässt sich auf den Erwerb einer Zweitsprache anwenden, denn die angeborene Grammatik wird auf das Erlernen einer neuen Sprache übertragen. Aber das ist bei Weitem nicht das einzige Modell in der Wissenschaft. Hier sind ein paar weitere beliebte Modelle; unsere Liste enthält allerdings nur einen Ausschnitt.

Das Akkulturationsmodell

Dieses Modell aus der Feder des Linguisten John Schumann richtet sich in erster Linie an Menschen, die einer linguistischen Minderheit angehören. Dahinter steckt die Idee, dass das Erlernen einer Sprache Teil eines größeren „Akkulturationsprozesses“, sprich eines Aneignungsprozesses, ist. Er beschreibt, wie Menschen, häufig Personen, die an einen neuen Ort immigriert sind, in die größere Kultur integriert werden. Schumanns Ideen verknüpfen den psychologischen Prozess des Sprachenlernens mit einem umfassenderen Konzept der Anpassung an neue Umstände.

Das Monitormodell

Das Monitormodell, auch „Input-Hypothese“ oder „Eingabehypothese“ genannt, wird vor allem dem Linguisten Steph Krashen zugeschrieben, der in den 1970er- und 1980er-Jahren tätig war. Im Gegensatz zu den anderen Hypothesen geht Krashens Idee davon aus, dass das Sprachenlernen – also das bewusste Vorhaben, eine Sprache mithilfe einer App, eines Lehrenden oder anderweitig, zu lernen – etwas komplett anderes als der Spracherwerb ist, bei dem es sich um einen eher passiven Prozess handelt. Ein weiteres Kernkonzept ist die Vorstellung, dass es eine natürliche Ordnung beim Sprachenlernen gibt und du dir neue Konzepte nur in einer ganz bestimmten Abfolge aneignest. Diese These wird auch „Input-Hypothese“ genannt, weil beim Spracherwerb laut Krashen nur der Input, den die Lernenden bekommen, wichtig ist. Der Output dagegen, also das Sprechen der jeweiligen Sprache, leistet keinen nennenswerten Beitrag zum Lernen.

Trotz all der vielen Theorien gibt es nach wie vor keine allgemein akzeptierte Erklärung dafür, wie der Mensch zur Sprache kommt. Es ist etwas, das wir alle können. Und gleichzeitig ist es eines der komplexesten Konzepte, die die Menschheit kennt. Solange wir das Gehirn nicht bis in die letzten Windungen durchleuchtet und verstanden haben, wird der Spracherwerb wohl immer ein bisschen geheimnisvoll bleiben.

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