Der Wangenkuss hat es während der Pandemie nicht einfach: Ende Februar 2020 untersagte Frankreichs Gesundheitsminister Olivier Véran nicht nur alle Versammlungen in geschlossenen Räumen von mehr als 5.000 Personen. Ebenso empfahl der Minister sich nicht mehr mit la bise zu begrüßen, also mit angedeutetem Küsschen auf die Wange.
Kurze Zeit später bat der ehemalige italienische Premierminister Giuseppe Conte die italienischen Bürgerinnen und Bürger, „Abstand zu halten und sich in der Zukunft wieder umso herzlicher zu umarmen.“ Praktisch bedeutete das eine Pause für den bacio sulla guancia, das italienische Wangenküsschen.
In Frankreich und Italien, aber auch in Spanien, Lateinamerika, auf den Philippinen, im Nahen Osten, in der Schweiz, in Belgien, den Niederlanden, Griechenland, Brasilien und dem Balkan ist der Wangenkuss ein wichtiger Bestandteil der Kultur (oder zumindest der Begrüßungskultur). Seit jedoch mit der COVID-Pandemie das Zeitalter des Ellbogen-Checks und der Mund-Nasenbedeckung eingeläutet wurde, stellt sich die Frage, ob dieser Brauch überhaupt eine Zukunft hat.
Kompromisse statt Küsse
Bisher ist man diesbezüglich durchaus geteilter Meinung. Zu Post-Lockdown-Zusammenkünften in Italien gehören mittlerweile Kompromisslösungen wie die Umarmung mit Brustkontakt und weggedrehten Köpfen. In Frankreich berühren sich die Leute zur Begrüßung am Arm. Und natürlich gibt es auch einige, denen der Körperkontakt so gefehlt hat, sodass sie jetzt, wo sie geimpft sind, wieder zum Küsschen auf die Wange zurückkehren. Aber nicht jeder fühlt sich damit gleichermaßen wohl.
Laut einem französischen Kollegen bei Babbel sind viele seiner Befreundeten mit dem Küsschengeben noch eher zögerlich – selbst die, für die es einst ein wichtiges Begrüßungsritual war. Das hat schon zu so manch ungelenk daneben gestoßenem Faustgruß und verunglücktem Händeschütteln geführt.
Mochte den Wangenkuss ohnehin niemand?
Nun, da diese oberflächliche Begrüßung infrage gestellt wird, fühlen sich viele freier, zuzugeben, dass sie sich mit dem Wangenkuss zur Begrüßung noch nie besonders wohlgefühlt haben.
Gewohnheit oder Pflicht?
„Es beginnt ein Nachdenken über unsere Gewohnheiten“, meint Fabienne Martin-Juchat, Professorin für Kommunikation an der Universität Grenoble-Alpes. Der Wangenkuss habe so lange zur alltäglichen Tradition gehört, dass man sich wenig Gedanken darüber gemacht hätte. Doch ob diese „Pflicht” wieder mit der gleichen Intensität und Spontaneität zum Einsatz kommen wird, bleibt fraglich. Genauso gut könnte es sein, dass sich die traumatische Erinnerung dauerhaft einprägen wird.
Im Juni 2021 sorgte der französische Emmanuel Macron beinahe für ein Comeback des Küsschens auf offizieller Ebene, als er zwei Weltkriegsveteranen mit Wangenberührung umarmte. Allerdings trug er dabei einen Mund-Nasenschutz.
Die Geschichte des Wangenkusses
Bei alldem muss man sich darüber im Klaren sein, dass der Wangenkuss keineswegs immer zum gesellschaftlichen Inventar gehörte. Tatsächlich haben schon früher Seuchen dazu geführt, dass ähnliche soziale Bräuche eingestellt wurden. Bevor im 14. Jahrhundert der Schwarze Tod in Europa wütete, küssten sich die Menschen zwar nicht zur Begrüßung, jedoch gab man sich einen Kuss, um etwas zu besiegeln, um „die Hand auf etwas zu geben“. Die Seuche hatte zur Folge, dass dieser Brauch ein jähes Ende fand. Erst vor ungefähr einem Jahrhundert kam die Praxis des Küssens wieder auf, möglicherweise danke einer gewissen „Demokratisierung des Luxus‘“, die zu jener Zeit einsetzte.
Zudem war la bise ohnehin dabei, an gesellschaftlichem Ansehen zu verlieren, zumindest zwischen männlichen und weiblichen Kolleginnen und Kollegen im beruflichen Umfeld, was teilweise auch auf die #MeToo-Debatte zurückzuführen ist. Für Frauen in Frankeich ist (oder war) es üblich, jeden mit Küsschen zu begrüßen, ganz gleich, wie gut sie die betreffende Person kennen. Männer begrüßen andere Männer hingegen nur mit Wangenkuss, wenn sie eng befreundet oder verwandt sind. Im Zuge verschiedener aktueller Bewegungen gegen sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt haben einige Frauen ihr Unbehagen gegenüber dieser Erwartungshaltung zum Ausdruck gebracht, vor allem, wenn es sich um Situationen mit hierarchischem Gefälle, wie mit einem männlichen Vorgesetzten, handelt.
Der Wangenkuss als Ausdruck nationaler Identität
In Kulturen, in denen der Wangenkuss üblich ist, lautet die Schlussfolgerung, dass enger körperlicher Kontakt Teil des „sozialen Leims“ ist, der Menschen einander näherbringt. Manche sagen sogar, eine Begrüßung ohne Wangenkuss fühle sich an, als würde man das Dessert weglassen – vernünftig, aber freudlos. Ob sich der Wangenkuss hält oder nicht, ist nicht nur eine Frage des Wandels sozialer Normen, sondern auch des Ausdrucks von nationaler Identität.
Eine Umfrage bezeugt jedoch, dass es den meisten französischen Menschen doch noch schwerfällt, den Wangenkuss zur Begrüßung wegzulassen. Auf Wangenkuss und Händeschütteln verzichten so laut Umfragen von September 2020 noch 66 Prozent statt 92 Prozent, wie Anfang April 2020. Unter den Deutschen küsst sich nur mehr jeder zehnte zur Begrüßung, während es vor der Pandemie noch 30% waren – deutliche Zahlen also. Aber werden sie das Ende des Wangenkusses bedeuten?