Tausendundeine Übersetzung

Geh mit einem Buch in der Hand auf Übersetzungsreise oder tauche vor dem Fernseher in sprachliche Tiefen ein!

Plötzlich waren sich ihre Gesichter ganz nah. Man konnte förmlich spüren, dass gleich etwas passieren würde. Sie schauten sich tief in die Augen und er wollte gerne seinen Arm um sie legen, zögerte aber noch etwas. Schließlich waren sie ja eigentlich nur Kollegen und hatten bisher nie viel miteinander zu tun gehabt. Doch dann machte sie den ersten Schritt, nahm sein Gesicht in ihre Hände und sagte: „From the day I saw you, I knew that we were meant to be together!“

Während die englischsprachigen Leser vor Romantik dahinschmelzen oder angesichts des ganzen Kitsches vielleicht die Augen rollen, denkt sich der deutsche Übersetzer sicher: „Na super, was mache ich denn nun?“ Hatten die zwei sich doch bisher immer gesiezt, müsste man eigentlich schreiben: „Seit dem Tag, an dem ich Sie sah, wusste ich, dass wir zusammengehören!“ Das klingt nun aber in dieser Situation sehr steif. Also doch lieber „Seit dem Tag, an dem ich dich sah, wusste ich, dass wir zusammengehören!“, oder? Aber vielleicht hätte man das Du schon etwas früher benutzen sollen, zum Beispiel als sich die zwei einige Minuten vor der romantischen Szene bereits im Flur begegneten und er sie fragte, ob sie sich gut auf das Meeting vorbereitet habe. Da hatten sie sich immerhin schon angelächelt. Eine schwierige Entscheidung, aber gerade das macht den Übersetzerberuf auch so spannend.

Nun ist Englisch eine Sprache, die dem Deutschen in Grammatik, Vokabular und auch in kultureller Hinsicht eher ähnlich ist. Andere Sprachen halten für Übersetzer ganz andere Probleme bereit. Werfen wir doch zum Beispiel mal einen Blick auf die türkische Sprache und stellen uns folgende Szene in einem Roman vor: Eine junge Frau spricht mit einer etwas älteren Frau und sagt: „Tante, ich vertraue dir ein Geheimnis an, das du bitte niemals Oma sagen darfst.“ Im Deutschen kein Problem. Ich kann mir aber sehr gut das Kopfzerbrechen eines türkischen Übersetzers vorstellen, der hier genau entscheiden muss, wie er Tante und Oma übersetzt. Das Türkische hat nämlich verschiedene Wörter für die Tante mütterlicherseits (teyze) und die väterlicherseits (hala), ebenso gibt es die Oma mütterlicherseits (anneanne) und die väterlicherseits (babaanne). Als wäre das nicht schon kompliziert genug, benutzt man im Türkischen die Anrede Tante auch oft für Frauen, die älter sind als man selbst, mit denen man aber nicht unbedingt verwandt sein muss. Das bedeutet, in der türkischen Übersetzung wäre nicht mal klar, ob es sich hier um Familienmitglieder handelt. Und wer weiß, ob das für den weiteren Verlauf des Romans eine wichtige Rolle spielt …?

Noch verzwickter wird es bei einem meiner Lieblingsautoren, Murakami Haruki (Murakami ist übrigens sein Nachname, der im Japanischen zuerst genannt wird. In der deutschen Übersetzung wird sein Name dann nach unserem Standard „umgedreht“). Während meiner Studienzeit musste ich einige seiner Romane im japanischen Original lesen und übersetzen – und manchmal auch deutsche Übersetzungen zurück ins Japanische übertragen. Oft wusste ich gar nicht, was schwieriger ist: wenn die Übersetzung leichtfällt, aber so viel Information verloren geht, oder wenn es umgekehrt ist. Als kleines Beispiel nehmen wir das deutsche Wort „ich“. Ganz leicht, oder? Natürlich gibt es im Japanischen eine Entsprechung, die in der Standardsprache auch zu 90 Prozent richtig ist, nämlich 私 (watashi). Darüber hinaus kennt das Japanische aber noch gut ein Dutzend anderer Wörter, die im Deutschen ebenfalls alle „ich“ bedeuten, im Japanischen aber gleichzeitig Informationen zum Geschlecht, sozialen Stand oder zur Beziehung der angesprochenen Person beinhalten können.

Der deutsche Satz „Ich ging die Straße entlang“ enthält beispielsweise keinerlei Angabe darüber, ob der Sprecher ein Mann oder eine Frau ist, wie alt die Person ist oder wo sie herkommt. Im Japanischen kann man mit 俺 (ore) dagegen ziemlich eindeutig einen männlichen Sprecher ausmachen, der vermutlich eher jünger ist. Würde man hingegen あたい (atai) lesen, weiß man als Japaner, dass es sich wahrscheinlich um eine Frau aus der Gegend um Tokyo handelt, da das Wort meist im dortigen Dialekt verwendet wird.

Murakami kann also ein ganzes Kapitel aus der Ich-Perspektive schreiben, nie explizit erwähnen, wer dieses Ich ist, und trotzdem hat ein japanischer Leser ein ganz konkretes Bild vor Augen, während der deutsche Leser völlig im Dunklen tappt.

Ebenso verhält es sich mit den vielen verschiedenen Wörtern für „du“. Spreche ich als Frau jemanden mit あなた (anata) an, ist das eine ganz neutrale Anrede. Ruft ein Mann einem anderen Mann ein 手前 (temae) zu, ist das vulgär und zutiefst beleidigend. Als Japanischlerner muss man hier natürlich besonders vorsichtig sein! „Ich“ ist nicht gleich „ich“ und „du“ ist nicht gleich „du“.
Natürlich werden wir niemals alle Sprachen beherrschen, um jedes Buch im Original lesen zu können und jeden Film in der Originalversion verstehen zu können. Aber in jeder Fremdsprache lassen sich Dinge finden, die in der Muttersprache ganz anders funktionieren, und gerade das macht das Sprachenlernen – zumindest für mich – so interessant. Manchmal kaufe ich mir Bücher in mehreren Versionen, nur um zu sehen, wie der Wortwitz auf Seite 36 übersetzt wurde. Momentan versuche ich mich am Spanischen und kann es kaum erwarten, auf Übersetzungsprobleme zu stoßen. Und vielleicht regt dich der nächste Film von Pedro Almodóvar ja auch dazu an, ein bisschen Spanisch zu lernen …?

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Maren Pauli

Maren Pauli ist in Berlin geboren und aufgewachsen, und entschied sich nach dem Abitur dafür, sprachlich, geographisch und kulturell so weit wie möglich entfernt von ihrem Heimatland zu studieren: in Japan. Schnell war klar, dass die Liebesbeziehung zum Land des Lächelns von Dauer sein würde. Ohne ihre Kamera und ihr Notizbuch bewegt sie sich nirgends hin, und zu ihren liebsten Hobbys gehören das Achterbahnfahren und das Verlaufen, da sie selbst in ihrer Heimatstadt eine miserable Orientierung hat. Aber so findet man bekanntlich die interessantesten Orte und erlebt die besten Geschichten.

Maren Pauli ist in Berlin geboren und aufgewachsen, und entschied sich nach dem Abitur dafür, sprachlich, geographisch und kulturell so weit wie möglich entfernt von ihrem Heimatland zu studieren: in Japan. Schnell war klar, dass die Liebesbeziehung zum Land des Lächelns von Dauer sein würde. Ohne ihre Kamera und ihr Notizbuch bewegt sie sich nirgends hin, und zu ihren liebsten Hobbys gehören das Achterbahnfahren und das Verlaufen, da sie selbst in ihrer Heimatstadt eine miserable Orientierung hat. Aber so findet man bekanntlich die interessantesten Orte und erlebt die besten Geschichten.