Als ich mit der Uni fertig war, dachte ich, dass mir alle Türen offen stehen und ich nur lange genug mit meinem Diplom herumwedeln muss, bis mir jemand meinen Traumberuf anbieten würde. Ich glaube, dass sich viele frisch gebackene Absolventen so fühlen und dass diese unangebrachte Zuversicht es einem nur noch schwerer macht, wenn die Arbeitswelt nur kollektiv mit den Schultern zuckt.
Meine Reaktion auf diese Enttäuschung war, der nicht existierenden Fülle an Jobangeboten den Rücken zu kehren und mich stattdessen auf meine Soft Skills zu konzentrieren. Ich googelte nach Stellenangeboten für Englisch-Lehrer in Spanien, fand ein bezauberndes Städtchen namens Zamora in Castilla y Leon und buchte mir einen One-Way Flug. Mein Spanischunterricht, wenngleich informell, fing direkt nach der Landung an: Ich musste mir, niedergedrückt vom Gewicht meines Rucksacks und der stehenden sommerlichen Schwüle, meinen Weg durch Madrid bahnen.
Eine Beziehung zu neuen Wörtern wird teilweise davon geformt, in welchem Kontext sie gelernt werden. Wann immer ich heute Wörter wie estación de trenes („Bahnhof“), vía („Gleis“) und billete („Fahrschein“) höre, werden in meinem Kopf sofort Bilder eines Labyrinths voller Fehlinformationen und Grauen konstruiert. Das war der erste Teil meines Spanischunterrichts – der, zu dem ich jedes mal zurückkehren würde, wenn ich von fremder Bürokratie verwirrt wurde oder mich ungeschickt beim Small Talk versuchte. Das Gefühl, ungebildet und tollpatschig zu sein, war ein bitterer Beigeschmack dieser ersten Erfahrungen in meiner neuen Heimat. Der zweite Teil meines Spanischunterrichts war das genaue Gegenteil: Spanischlernen durch Diskussionen mit meinen Mitbewohnern, nette Sticheleien, Scherze und den täglichen Austausch mit bekannten Gesichtern.
Im Folgenden findest du eine Liste meiner Lieblingswörter aus zwei Jahren des zweiten Teils. Ich hoffe, dass sie dir gefallen.
1. Leche
Nomen: „Milch“
Mit Milch kann man im Deutschen nicht sehr viel anstellen: Jemandem kann die Milch sauer werden, Milchmädchen können mit ihr naive Rechnungen durchführen und in den Milchreis kommt sie auch – das war’s schon ungefähr. Nicht so auf der iberischen Halbinsel: Eine der Sachen, die mir bei meiner Ankunft sofort auffielen, war die scheinbare Faszination der Einheimischen mit Milch: Begeisterung, Entgeisterung, Glück, Pech und Bewunderung können alle mithilfe von Milch ausgedrückt werden. Glaubt ihr nicht? Schaut euch dieses (komplett konstruierte) Gespräch an:
👉 El jugador de fútbol corría a toda leche cuando uno de sus oponentes le dio una leche en la pierna.
(Ein Fußballspieler rannte gerade mit voller Geschwindigkeit, als ein gegnerischer Spieler ihn am Fuß traf.)
👉 “Ay la leche”, gritó el jugador al caerse al suelo.
(„Verdammt“, schrie der Spieler, während der hinfiel.)
👉 Un espectador en el estadio comentó a su amigo, “¡Qué mala leche! Ese futbolista es la leche, y si está herido no va a poder jugar en la final, ¡Me cago en la leche!”
(Ein Zuschauer im Stadion drehte sich zu seinem Freund um: „Das war gegen die Regeln! Er ist der Beste und wenn er verletzt ist, dann kann er nicht im Finale spielen. So ein Scheiß!“)
👉 Su amigo le respondió, “no te pongas de mala leche, tio. No me parece tan serio. Se levantará y seguirá jugando. Lo verás.”
(Sein Freund antwortete: „Lass dir davon nicht die Milch sauer machen. Es sieht nicht so ernst aus. Er wird wieder aufstehen und weiter spielen. Du wirst schon sehen.”)
👉 “Y una leche”, dijó el espectador abatido.
(„Keine Chance!“, sagte der Zuschauer niedergeschlagen.)
2. Polvo
Nomen: „Staub“
Mit „Staub“ kann man auf Deutsch schon deutlich mehr anfangen als mit Milch. Stell dir zum Beispiel vor, dass der Verlobte deiner besten Freundin eine Menge Staub damit aufwirbelt, indem er sich vor der Hochzeit mit einer Anderen aus dem Staub macht. Nach ein paar Wochen, als sich der Staub gerade etwas gelegt hat, hat er die Nerven, wieder zurück zu kommen. Deine beste Freundin will davon natürlich nichts hören: Der Kerl kann noch so sehr vor ihr im Staub kriechen, sie würde ihm trotzdem nie verzeihen. Von ihr aus kann er ruhig ins Gras beißen – Asche zu Asche, Staub zu Staub, und das Problem ist aus der Welt.
Im Englischen und Spanischen beißt man übrigens statt ins Gras in den Staub, beziehungsweise one bites the dust oder morder el polvo – auch wenn ich das nicht unbedingt empfehlen würde. Si estás hecho polvo – wenn du „zu Staub gemacht“ wirst, bist du „erschöpft, kaputt, fertig“ und si estás hecho polvo de la cabeza, bist du „völlig verrückt“, also „hast du nicht alle Tassen im Schrank“. Und si haces polvo a alguien, dann „machst du jemanden zu Staub“, was bedeutet, dass du ihn „absolut fertig machst“. Ich nehme an, du hast es kapiert: Wenn du polvo bist, wurdest du sozusagen „pulverisiert“.
Aber im Spanischen gibt es auch Sprichwörter, die eine dürftigere Verbindung zu den kleinen Partikeln, die wir „Staub“ nennen, haben. Aus Gründen, die mir bis heute unbegreiflich sind, bezieht sich polvo nämlich auch auf „Geschlechtsverkehr“. Wenn du also prüde bist (oder auf Spanisch mojigato, ein anderes meiner Lieblingswörter, das es nicht in diese Liste geschafft hat), dann wende deinen Blick jetzt ab … : Wenn du die Bedeutung der Phrase echar un polvo nachschaust, wirst du die Definition „realizar el acto sexual“ finden, während jemand, der einen polvo hat (alguien tiene un polvo) „sexuell attraktiv“ ist. Da haben wir sie wieder, die Fifty Shades of Grey: von Hausstaubgrau über Baustaubgrau bis hin zu sexuell-attraktiv-Staubgrau …
3. Resaca
Nomen: „einen Kater haben“
Resaca ist eines dieser Wörter, die du – genauso wie tapas, burrito, cargo und guerrilla – vielleicht schon mal gehört hast, obwohl du ihre ursprünglichen oder alternativen Bedeutungen nicht kennst. Wusstest du, dass burrito „Eselchen“ heißt und guerilla „kleiner Krieg“ bedeutet (was den Begriff Guerillakrieg etwas überflüssig macht)? Kommen wir aber wieder zur resaca zurück – etwas, das mir leider viel zu oft passiert. Tener resaca bedeutet im Volksmund „einen Kater haben“, aber la resaca bezeichnet auch „die Brandung, die Treibholz und anderen Schutt nach einem Sturm an das Ufer spült“ – es ist diese verspielte Bildsprache, die das Wort la resaca für mich so attraktiv macht.
4. Botellón
Nomen: „Öffentliches Trinken“
Botellón ist der Augmentativ (die Vergrößerungsform) von botella („Flasche“) – el botellón würde wortwörtlich übersetzt also „die große Flasche“ heißen. Wie sich jeder Erasmus-Studierende erinnern wird, ist un botellón aber deutlich mehr als ein überdimensionaler Behälter für Getränke. Du musst dich nur mal zu einem öffentlichen Platz begeben und schon triffst du hunderte von heiteren jungen Menschen, die sich mit calimocho (einer überraschend wirksamen Mischung aus Cola und Wein, die mit dem Vorurteil, das alle Spanier:innen Weinkenner sind, aufräumt), nicht langsam, dafür aber sicher auf dem Weg zur Überzuckerung und einem schweren Kopf am nächsten Morgen befinden. Botellón-ieren ist zu so einem festen Bestandteil der spanischen Jungendkultur geworden, dass sich daraus noch weitere Begriffe entwickelt haben, darunter botellódromo („öffentliche Plätze, auf denen botellones abgehalten werden“) und macro-botellón, der, wie ihr wahrscheinlich schon richtig geraten habt, eine sogar „noch größere Flasche“ bezeichnet – wobei unklar bleibt, wann ein botellón zum macro-botellón wird.
5. Vergüenza
Nomen: „Verlegenheit, Schamgefühl“
Vergüenza fällt je nach Kontext zwischen „Verlegenheit“ und „Schamgefühl“. „¡Qué vergüenza!“ könnte mit „Wie peinlich!“ übersetzt werden, während ich euch mit „¡Qué poca vergüenza tienes!” zurechtweisen würde, „kein Schamgefühl zu haben“. Ich habe vergüenza aber nicht wegen seines Bedeutungsumfangs ausgewählt, sondern, weil es mit zwei entzückenden Redewendung unweigerlich verstrickt ist: la de la vergüenza und vergüenza ajena. La de la vergüenza lässt sich mit „die Schamhafte“ übersetzen und bezeichnet „das Anstandsstück, das man auf einem geteilten Teller hinterlässt, weil man sonst eventuell von allen zukünftigen Tapas-orientierten Aktivitäten ausgeschlossen wird“. Vergüenza ajena ist dagegen das spanische Equivalent zum „Fremdschämen“ – ein Konzept, das für Engländer übrigens genauso bezaubernd ist.
6. Friolero/ Caluroso
Adjektiv: „sehr kälte-/ hitzeempfindlich“
Der durchschnittliche Brite hat ein tief verwurzeltes Bedürfnis dafür, so oft wie möglich über das Wetter zu reden. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, wie launisch das Wetter auf den britischen Inseln sein kann. Was allerdings verwunderlich ist, dass die Spanier:innen mit ihren diesigen Tagen und ihrer sonnigen Lage zwei weit verbreitete Wörter haben, die die Brit:innen echt gebrauchen könnten: friolero und caluroso. Die Adjektive werden dazu gebraucht, um jemanden zu beschreiben, der „besonders empfindlich auf Kälte“ (friolero) oder „Hitze“ (caluroso) reagiert. Wenn sich also jemand das nächste Mal über das kalte, unbarmherzige Wetter beschwert, weißt du, was du sagen musst: „Sei nicht so ein friolero“.
7. Desvelado
Adjektiv: „unfähig zu schlafen, weil du von jemandem oder etwas wach gehalten wirst“
„Estuve toda la noche desvelado“, murmelte mein compañero de piso, oder „Mitbewohner“. Er war gerade muffelig und verwirrt aus seinem Zimmer gekommen und zeigte darum nicht gerade viel Verständnis dafür, dass ich unbedingt wissen wollte, was desvelado bedeutet. In genau diesen Situationen sucht das Gehirn nach Konnotationen, Assoziationen, Wurzeln, Ableitungen, generalisierbaren Bedeutungen von Vorsilben, kurz: nach allem, was eine stabile Grundlage für eine Mutmaßung bietet:
Des- ist eine negative Vorsilbe und wies damit vermutlich auf die Abwesenheit von etwas hin. Jetzt musste ich nur noch velado austüfteln. Ich wusste, dass una vela eines dieser Homonyme ist, das Lernende mit seinen vielen Bedeutungen wie „ein Segel“, „eine Kerze“ und „eine Nachtwache“ verwirrt. Wenn du estás a dos velas bist, heißt das, du bist „pleite, abgebrannt, mittellos, ohne Geld für Elektrizität und kannst dir stattdessen nur Kerzen leisten“; während si pasas la noche en vela bedeutet, dass du „auf einem Vergil, einer Nachtwache bist und die ganze Nacht kein Auge zubekommst“.
„Das ist es!“, dachte ich. „Das Gegenteil von en vela („den Zustand der Wachheit verlassen“) – er hat also so fest geschlafen, dass er jetzt kaum noch zu den Lebenden zurückkehren kann.“
„Pues me alegro por ti, David, que bajo este calor no me puedo ni dormir“ – Ich freute mich für ihn, weil ich selbst in der spanischen Sommenhitze nie einschlafen konnte.
Er sah mich sogar noch verwirrter an: Denn desvelado war, wie sich herausstellte, ein anderes dieser Wörter, das im Englischen verdächtig abwesend ist: „unfähig zu schlafen, weil du von jemandem oder etwas wach gehalten wirst“ – egal, ob es laute Nachbarn oder ein kopfzerbrechendes Problem ist.
8. Agujetas
Nomen: „Muskelkater“
Das Wort agujetas ist eines dieser wundervollen, kehligen Abenteuer, das zwischen Konsonanten und Vokalen hin und her springt, und mit dem Brit:innen wunderbar ihre spanische Aussprache trainieren können, wenn sie irgendwann einmal einen überzeugenden spanischen Akzent haben wollen. Sein Klang ist aber nicht der einzige Grund, warum ich das Wort mag. Agujetas beschreibt „Muskelkater“ so treffend, wie es kaum ein anderes Wort kann: Es nähert sich der Verkleinerungsform des spanischen Worts für „Nadeln“ (agujas, Verkleinerungsform: agujitas) an und ruft damit sofort ein Bild von winzigen Nadeln hervor, die eine müde Muskelgruppe bearbeiten. Die Wurzel des Wortes scheint jedoch nicht in dieser Bedeutung zu liegen – eine Theorie besagt, dass agujetas zunächst für „Objekte von geringem Wert“ genutzt wurde. Später wurde es dann eine abwertende Bezeichnung für „das dürftige Trinkgeld, das Postboten auf Pferden im 18. Jahrhundert bekamen“, bevor es schließlich mit „den Schmerzen, die ein unerfahrener Reiter erfährt“, gleichgesetzt wurde.
Wörter sind einfach wunderbar, nicht wahr?