Russische Literatur ist fabelhaft! Während deutsche Literaten wie Schiller, Lessing und Goethe auf hiesigen Schullehrplänen vor sich hin dümpeln und von den meisten Heranwachsenden zähneknirschend gelesen werden, sind klassische russische Schriftsteller innerhalb des Landes auch bei jungen Leserinnen und Lesern äußerst beliebt. Kein Wunder, hat doch das heutige Russland überaus fantastische russische Autorinnen und Autoren hervorgebracht! Ergo raten wir dir, dass du 2021 mindestens fünf russische Schriftsteller auf deine Leseliste setzt. Um die Qual der Wahl zu erleichtern, präsentieren wir Folgende:
Die Aufarbeiterin: Irina Scherbakowa (*1949)
Diese unübliche russische Autorin ist in erster Linie Wissenschaftlerin und Redakteurin. Irina Scherbakowa wurde 1949 in Moskau geboren, schrieb für verschiedene Zeitungen und unterrichtete an einer Moskauer Universität. Scherbakowas Forschungsgebiete umfassen Totalitarismus, Stalinismus und Oral History (mündlich überlieferte Geschichte). Sie ist in internationalen Gremien vertreten, als Wissenschaftlerin und Publizistin hoch angesehen. In den 1980er Jahren gehörte sie zu den Initiatoren von Memorial, der renommierten Menschenrechtsgesellschaft Russlands. Scherbakowa zählt zu den wichtigsten weiblichen Stimmen, die nicht nur in Russland, sondern auch im deutschsprachigen Raum zu hören sind. So äußert sie sich differenziert zur aktuellen politischen und kulturellen Situation, unter anderem in ihrer kürzlich publizierten wunderbaren Autobiografie: Die Hände meines Vaters beschreibt die Geschichte ihrer Familie in Moskau. Ein unbedingt lesenswertes Buch unserer Zeit, in dem übrigens auch nicht mit (russischen) Literaturempfehlungen gespart wird!
- Lesetipp: Der Russland-Reflex (2015): Scherbakowa diskutiert gemeinsam mit dem angesehenen Osteuropahistoriker Karl Schlögel über ihre Heimatländer und das deutsch-russische Verhältnis.
- Lesetipp: Die Hände meines Vaters (2017): Eine epische Familiengeschichte im Moskau des 20. Jahrhunderts reißt Leser und Leserinnen in ihren Bann.
Die Poetin: Anna Achmatova (1889-1966)
Anna Achmatova ist eine der berühmtesten Dichterinnen Russlands. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Literaten Nikolai Gumiljow gehört Achmatova zu den führenden Vertretern des Akmeismus, einer Literaturbewegung im frühen 20. Jahrhundert, die durch sprachliche Klarheit dem Symbolismus entsagt. Achmatovas Gedichte sind oft kurz: Mit einfachen Worten schildert sie alltägliche Erlebnisse voll von unfassbarem Schmerz oder großer Liebe.
In der postrevolutionären jungen Sowjetunion wurden ihre Gedichte nicht mehr gedruckt – sie hätten zu wenig gesellschaftlichen (also bolschewistisch-propagandistischen) Wert. Achmatovas Mann wurde von den Bolschewiki erschossen. Ihr zweiter Mann Nikolai Punin sowie ihr Sohn wurden in den 1930er Jahren inhaftiert. In ihren Dichtungen verarbeitete Achmatova die Ungewissheit und Angst um ihre Liebsten. Ihre Gedichte aus dieser Zeit sind eine verzweifelte Wehklage über den stalinistischen Terror. 1940 erschien seit langem wieder ein Gedichtband von ihr; und prompt brachen in den Buchläden Prügeleien um die wenigen gedruckten Bücher aus. Heute gilt Anna Achmatova als wichtigste russische Autorin des Silbernen Zeitalters (frühes 20. Jahrhundert).
- Lesetipp: Poem ohne Held (1963): Diese Versnovelle (gedichtete Erzählung) handelt von verstorbenen Freunden und Bekannten während der deutschen Blockade Leningrads/Petersburgs von 1941 bis 1944.
Der Satiriker: Michail Bulgakow (1891-1940)
Bulgakow wurde Ende des 19. Jahrhunderts in Kiev geboren, das damals zum russischen Zarenreich gehörte. Der praktizierende Arzt desertierte aus der Armee und begann nach Ende des ersten Weltkrieges in Moskau für diverse Zeitschriften zu schreiben. So veröffentlichte er auch erste Prosastücke. Ab 1930 wurden seine Texte und Bücher nicht mehr gedruckt, seine Stücke nicht mehr aufgeführt. Zu gesellschaftskritisch waren seine Satiren, zu treffend seine Persiflage auf Politik und Überwachungspraktiken der jungen Sowjetunion. Diese Situation änderte sich zu Lebzeiten Bulgakows nicht; seine Bücher wurden erst spät nach seinem Tod erstmals in der Sowjetunion publiziert. Wenn du Bulgakow liest, erkennst du seine bissige, groteske Darstellung des sowjetischen Alltagslebens und die absurden Züge, die es annimmt.
- Lesetipp: Der Meister und Margarita (1940): Bulgakov arbeitete fast 13 Jahre an seinem Meisterstück und beendete es kurz vor seinem Tod. Im Roman besucht der Teufel Moskau zu Beginn des 20. Jahrhunderts und stiftet überaus große Verwirrung.
Der Visionär: Jewgenij Samjatin (1884-1934)
Huxleys Brave new World und Orwells Animal Farm gelten im Kanon als weltberühmte Vertreter des dystopischen Romans: Sie beschreiben Zukunftsgesellschaften und gelten als literarische Schablone autoritärer Diktaturen. Die wenigsten Leser jedoch wissen, dass beide Werke dem von einem sowjetischen Schriftsteller weitaus früher verfassten Werk Wir beträchtlich ähneln. Sein Name: Jewgenij Samjatin. 1884 in Zentralrussland geboren, schloss sich Samjatin frühzeitig den Bolschewiki an und beteiligte sich 1919 aktiv an der Oktoberrevolution. Relativ schnell aber trat eine Ernüchterung über herrschende Gewalt und Gleichschaltung ein. Seine Empfindungen verarbeitete er 1920 in seinem ersten Roman Wir. Dieser handelt von einem fiktiven Zukunftsstaat, in dem völlige Gleichheit herrscht. Das Individuum zählt nichts, das Kollektiv alles. Bemerkenswerterweise finden sich in seinem Roman erhebliche Parallelen zum Regime und zur Person des sowjetischen Diktators Josef Stalins, obwohl dieser erst sieben Jahre nach Fertigstellung des Buches die Macht erlangte. Aufgrund Samjatins indirekter Kritik an der jungen Sowjetunion erhielt er Schreibverbot und emigrierte 1931 nach Paris. Dort lebte er bis zu seinem Tod. Wir erschien ab 1925 im (nicht-sowjetischen) Ausland und erst 1988 in der Sowjetunion. Sowohl Huxley als auch Orwell waren Leser Samjatins und übernahmen einzelne Elemente für ihre eigenen Werke.
- Lesetipp: Wir (1920): Dystopischer Roman über die gleichgeschaltete Gesellschaft in einer autoritären Diktatur.
Der Dramatiker: Anton Tschechow (1860-1904)
Tschechow verfasste in 23 Jahren atemberaubende 600 Kurzgeschichten, Erzählungen und Theaterstücke – und währenddessen praktizierte er auch noch als Dorfarzt! Thematisch drehten sich seine Erzählungen um das Leben der Kleinbürger in der russischen Provinz am Ende des 19. Jahrhunderts; kurz: Sünde, Langeweile, geistiger Verfall. Seine Helden sind daher meist provinzielle Bürger, die auf ihren Landsitzen jammernd prokrastinieren und nicht vom Fleck zu kommen scheinen. In dieser Hoffnungslosigkeit findet sich dennoch auch das Komische.
Für dich als Leser ist Unterhaltung garantiert: Dank Tschechows brillianter Wortwahl wirken seine literarischen Figuren wie aus dem Leben gegriffen. Der Meister der Kurzgeschichten verfasste übrigens keinen einzigen langen Roman! Seine knappen, exakten Charakterstudien beeinflussten die Entstehung der modernen Novelle und des Schauspiels.
- Lesetipp: Die Möwe (1895): Eine gemischte Gesellschaft findet sich auf einem Landgut ein. Unzufrieden und unglücklich verliebt verbringen sie gemeinsam ihre Zeit.