Würdest du deine Tante duzen oder siezen? Über Anredeetikette in Russland

Wann duzt oder siezt man in Russland und wie funktioniert eigentlich diese Geschichte mit den Vatersnamen? Ein Muttersprachler erklärt es.
Illustriert von Sveta Sobolev

Jeder von uns hat mindestens ein Mal in seinem Leben einen Kulturschock erlebt. Fremde Bräuche und eine andere Mentalität wundern uns im besten Fall, oft aber schockieren sie uns: Auf jeden Fall lassen sie uns nicht gleichgültig, sondern rufen Emotionen hervor. Ein beliebtes Beispiel dabei ist, die Frage: duzen oder siezen? Lass uns einen Test machen, indem du versuchst, folgende Frage zu beantworten: Fühlst du dich gerade beleidigt, weil ich dich duze?

Vor 17 Jahren, als ich ganz frisch nach Deutschland kam, hätte ich mich an deiner Stelle beleidigt gefühlt. Warum? Nun, unterhalten wir uns mal über die Anredeetikette in Russland.

Wann solltest du Вы („Sie“) und wann ты („du“) sagen, um nicht in eine peinliche Situation zu geraten?

Ein Geheimtipp von mir: Du wirst nie einen Fehler machen, wenn du prinzipiell alle unbekannten Menschen in Russland siezen würdest. Ein Rentner in einem überfüllten Bus? Biete ihm höflich deinen Platz an und sprich ihn mit Вы (Wy – „Sie“) an. Ein hübsches Mädchen in der U-Bahn, das du kennenlernen möchtest? Sag zu ihr Вы („Sie“) und deine Chancen werden sich verdoppeln: Девушка, можно с Вами познакомиться? (Dewuschka, moshno s Wami pasnakomitsja? – „Junge Frau, darf man Sie kennenlernen?“). Ach ja, Вы ändert seine Form außerdem je nach Kasus, in diesem Fall wird Вы zu (с) Вами (s Wami). Darüber aber ein anderes Mal. Ein junger Professor an der Uni, bei dem du ein Buch ausleihen möchtest? Вы, Вы und noch mal Вы.

Sagt man überhaupt ты („du“) in Russland?

Aber natürlich – zu den Freunden, Eltern und Großeltern, Geschwistern oder gleichaltrigen Kollegen gleichen Status. Für die Unterscheidung zwischen Вы (Wy) und ты (ty) gibt es zwei Hauptkriterien: das Alter und die soziale Rolle. Eine Person, die wesentlich älter ist als du, sollte man siezen. Dein/e Vorgesetzte/r, auch wenn sie/er gleichen Alters ist, wird ebenfalls gesiezt. Apropos, kennst du die russische Höflichkeitsformel: Vorname+Vatersname? Wenn deine Chefin beispielsweise Tatjana und ihr Vater Aleksander heißt, so müsstest du sie mit Татьяна Александровна (Tatjana Aleksandrowna) ansprechen. Ihr Bruder Roman, der zufällig die Nebenabteilung leitet, wäre dann Роман Александрович (Roman Aleksandrowitsch) – die weiblichen und männlichen Formen werden bei Vatersnamen also unterschieden. In der Regel weist die Endung auf eine Frau hin.

Wie geht das mit den Vatersnamen?

Diese Anrederegel gilt jedoch nur für die innerrussischen Verhältnisse. Wenn es sich um die Anredeetikette auf der international-politischen Ebene handelt, so wird die universale Formel Frau/Herr+Nachname verwendet. Frau Merkel zum Beispiel wird auf Russisch als госпожа (gaspazhá) Меркель angesprochen, und Herr Putin als господин (gaspadín) Путин. Seine russischen Unterstellten nennen Herrn Putin wiederum Владимир Владимирович (Wladimir Wladimirowitsch – ja, sein Vater hieß auch Wladimir). Wie du siehst, wird die männliche Form des Vatersnamens mithilfe des Suffixes -ович beziehungsweise -евич, die weibliche mithilfe des Suffixes -овна beziehungsweise -евна gebildet. Nicht zu verwechseln mit den russischen Nachnamen, die in der Regel auf -ов (männlich) oder -ова (weiblich) enden. Oft klingen die Vaters- und Nachnamen sehr ähnlich: Stell dir vor, der Vater von Iwan Iwanow hieße auch Iwan. In seinem Ausweis würde dann stehen: Иван Иванович Иванов (Iwan Iwanowitsch Iwanow). Eine Frau namens Aleksandra hätte einen Vater, der Aleksander (Vorname) Aleksandrow (Nachname) heißt. Ihr offizieller Name wäre dann Александра (Aleksandra – weiblicher Vorname) Александровна (Aleksandrowna – Vatersname) Александрова (Aleksandrowa – Nachname).

Die liebe Verwandschaft

Wie sieht es mit Tanten und Onkeln аus? Hier gilt die auch in Deutschland übliche Formel тётя (tjotja – „Tante“) beziehungsweise дядя (djadja – „Onkel“) + Vorname, zum Beispiel тётя Лена, дядя Женя. Dabei wird für den Vornamen die Kurzform benutzt: zum Beispiel Лена statt Елена (Jelena) und Женя statt Евгений (Jewgeni). Die Kurz- und Verniedlichungsformen sind sehr beliebt in Russland. Oft hat ein Vorname fünf Verniedlichungsformen, die natürlich nur von Freunden, Partnern oder Eltern benutzt werden dürfen. In manchen Familien werden Tanten und Onkel dabei gesiezt und in manchen geduzt.

Meine Großväter habe ich leider nie kennengelernt. Meine Oma väterlicherseits, Пелагея (Pelageja), nannte ich баба Поля (baba Polja – Oma Polja). Aufpassen! Баба in der Kombination mit dem Vornamen ist eine Kurzform von бабушка (babuschka – „Oma“); wenn aber баба allein steht, dann trägt es eine abwertende Bedeutung „Weib“. Meine Oma mütterlicherseits, Нина (Nina), die mich großgezogen hat, nannte ich zärtlich бабулик (babulik – „Omachen“), ohne den Vornamen benutzen zu müssen. Die beiden Omis habe ich geduzt.

Als ich nach Deutschland zog, war es für mich eine große Herausforderung, in den meisten Fällen auf das Du umsteigen zu müssen. Sei es meine Spanischdozentin an der Uni, die Chefs in der Gaststätte, wo ich als Student gekellnert hatte, oder gleichaltrige Fremde in der Öffentlichkeit – alle wollten geduzt werden! Als ich aber neun Jahre später Baden-Württemberg verließ und nach Berlin zog, dachte ich mir: Jut, dass ick jetze so jut vorbereitet bin!

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Lars

Lars war, wie die meisten Studenten in Russland, schon mit 22 mit dem Studium in seinem Heimatland fertig. Nach seinem Lehramtabschluss in Russischer und Englischer Philologie zog er nach Heidelberg, wo er bis 2009 Deutsche und Spanische Philologie auf Magister studierte. Nach dem Abschluss führte ihn das Schicksal nach Berlin, wo er seit 2014 als Autor und Editor der Russisch-Kurse bei Babbel arbeitet.

Lars war, wie die meisten Studenten in Russland, schon mit 22 mit dem Studium in seinem Heimatland fertig. Nach seinem Lehramtabschluss in Russischer und Englischer Philologie zog er nach Heidelberg, wo er bis 2009 Deutsche und Spanische Philologie auf Magister studierte. Nach dem Abschluss führte ihn das Schicksal nach Berlin, wo er seit 2014 als Autor und Editor der Russisch-Kurse bei Babbel arbeitet.