Wir Brasilianer sind dafür bekannt, expressiv zu sein. Vielleicht haben wir es von unseren italienischen Vorfahren, die in einer riesigen Einwanderungswelle in dieses Land kamen, geerbt. Oder, wer weiß, vielleicht ist es wegen der afrikanisch-portugiesischen Herkunft, die sogar noch weiter in der Vergangenheit liegt. Eins ist aber sicher: Wir Brasilianer gestikulieren gern – und rufen dazu viele Gesten ins Leben.
Seit ich in Berlin lebe – einer Stadt mit einer Kultur, von der ich sagen kann, dass sie fast das genaue Gegenteil von Brasilien ist – hatte ich die Möglichkeit, das brasilianische Verhalten aus einer anderen Perspektive zu beobachten. Außerhalb von Brasilien zu sein und Kontakt nicht nur mit der deutschen, sondern auch der spanischen, französischen, italienischen oder sogar iranischen Kultur zu haben, gibt mir eine gute Basis für Vergleiche, sodass ich heute eine ganz neue Sichtweise auf die Kultur meines Heimatlandes habe. Ich identifiziere mich sehr mit dem portugiesischen Schriftsteller Jose Saramago, der gesagt hat: „Um die Insel zu sehen, musst du von der Insel runter kommen.“ Erst, als ich nach Deutschland gezogen bin, habe ich bemerkt (und oft zu hören bekommen), wie viel ich jeden Tag gestikuliere. Nach vielen ulkigen Blicken, schelmischen Kommentaren und witzigen Missverständnissen kam ich zu dem Schluss, dass die nonverbale Sprache Brasiliens fast ein Kulturerbe ist. Nachdem viele Nicht-Brasilianer überrascht darüber waren, wie ich mich ausdrücke, entschloss ich mich, mir unsere Gewohnheit des Gestikulierens etwas genauer anzusehen.
Warum gestikulieren wir also so viel? Es steht fest, dass die meisten Kulturen ihre eigenen, besonderen Gesten haben. Oft haben diese eine positive Konnotation, die auf der anderen Seite des Erdballs jedoch ganz anders verstanden werden kann. Dem nordamerikanischen Soziologen George H. Mead zufolge ist „die Konversation durch Gesten der Ursprung jeder Sprache und das Vorbild für jede Kommunikation, sobald sie zwei Aspekte jedes sozialen Prozesses hat: Die Reaktion des Anderen während der Verarbeitung und die Antizipation eines Resultats des Aktes.“ Anders ausgedrückt: Gestikulation spielt eine wichtige Rolle in der Konstruktion einer kulturellen Identität und dem gesellschaftlichen Zusammenleben. Gesten können außerdem aufgrund von Kultur und den sozialen Bedürfnissen von Individuen variieren – natürlich haben Länder mit anderen sozialen Interaktionen auch andere Gesten (oder eben je nach Situation gar keine).
Ich würde sogar behaupten, dass unser heißes Klima (durch das sich die Leute vielleicht mehr entspannen und ausladender sind als Menschen in kalten Gefilden) und die bunte Geschichte unseres Landes ebenfalls dazu beigetragen haben, dass es die Norm ist, mit den Händen zu sprechen.
Eine interessante Studie, die von Maureen Gillespie, Ariel James, Kara Federmeier und Duane Watson für die University of Illinois durchgeführt wurde, könnte sogar eine kognitive Erklärung dafür liefern, warum manche Menschen mehr gestikulieren als andere. Das Forscherteam führte mit 50 Personen Tests durch. Manche der Tests untersuchten das Vokabular, während andere das verbale Arbeitsgedächtnis anzapften – also die Fähigkeit, Wörter zu behalten, in unserem Kopf umzustellen und zu justieren. Die Versuchspersonen schauten sich dann Tom und Jerry-Cartoons an und beschrieben im Folgenden, was die Figuren alles angestellt hatten. Die Testpersonen mit einem schlechteren verbalen Arbeitsgedächtnis (die nicht zwangsläufig ein kleines Vokabular haben mussten) tendierten dazu, mehr Gesten zu verwenden, wenn sie die Cartoons nacherzählten.
Es könnte also sein, dass Gesten in unserem Arbeitsgedächtnis Freiraum schaffen. Manche Sprachwissenschaftler und Psychologen sind der Ansicht, dass wir für die Produktion von Sprache einen Prozess durchlaufen müssen, der sich thinking for speaking, also „Denken für das Sprechen“ nennt – es wird Energie darauf verwendet, die Botschaft, die wir übermitteln wollen, in die entsprechenden Strukturen, Wörter und Laute zu formen. Eventuell unterstützen Gesten diesen Prozess, indem sie uns dabei helfen, unsere Gedanken zu organisieren, und uns Arbeit beim Erklären abnehmen, wenn es um ein Konzept geht, das schwer in Worte zu fassen ist. Diese Erklärung macht besonders viel Sinn, wenn wir bedenken, dass gerade dann gestikuliert wird, wenn wir Schwierigkeiten haben, etwas zu erklären. In einem Land wie Brasilien, das durch so viele Kulturen und Sprachen geprägt ist, boten Gesten vielleicht auch manchmal das einzige effektive Mittel zur Kommunikation.
In einer anderen Studie wurde außerdem festgestellt, dass Gestikulieren uns dabei unterstützt, visuelle und räumliche Informationen besser behalten zu können, und es auch die Fähigkeit fördert, Mitleid zu empfinden. Vielleicht werden Brasilianer aus diesem Grund als so gastfreundlich und sympathisch wahrgenommen?
Küsse und Handwedeln beiseite zeigt das obige Video nur eine kleine Auswahl aus unserem breiten Spektrum an Gesten. Du siehst, wie lustig es ist, wenn Menschen anderer Länder und Kulturen mit ihnen konfrontiert werden.
Eines ist sicher: Es ist egal, wie viele Sprachen du sprichst und wie viele Orte du bereist hast, deine brasilianische Herkunft wird irgendwann an die Oberfläche treten. In meinem Fall ist das in der Form von Gesten passiert.