Weißt du noch, wie du deine eigene Muttersprache gelernt hast? Deine Eltern, Lehrer:innen und andere Erwachsene haben dich sicher hin und wieder mal das Alphabet aufsagen lassen. Doch die meiste Zeit hast du mit Geschichten gelernt: Mit Geschichten vor dem Schlafengehen, im Kindergarten oder aus Kinderbüchern, denen du folgen konntest, wenn die Erwachsenen beim Vorlesen mit dem Finger die Zeile entlanggefahren sind. Das Lernen einer Sprache durch Storytelling ist nicht nur eine effektive Möglichkeit, um Sprachkenntnisse zu erwerben, es ist für gewöhnlich auch die erste Lernmethode überhaupt in unserem Leben.
Geschichten scheinen uns als Menschen auszumachen. Als Kinder lernen wir oft auf ganz natürliche Weise mit ihnen, und auch zahlreiche Kulturen haben über sie ihre Traditionen weitergegeben, bevor die Schrift aufkam (aber auch danach).
Doch wie nützlich ist das Geschichtenerzählen als Lernmethode für Erwachsene, insbesondere in Zeiten von Apps, Spracherkennungssoftware, automatischer Übersetzung und KI-Chatbots? Das Sprachenlernen durch Storytelling wird wohl immer eine der effektivsten Lernansätze sein. Wenn dir das Einprägen von Grammatikregeln bisher schwergefallen ist, dich gelangweilt hat, oder einfach nicht klappen wollte, ist es vielleicht an der Zeit, eine unterhaltsamere Lernvariante auszuprobieren.
Mit Geschichten lernt es sich leichter: Storytelling als hilfreiche Methode zum Sprachenlernen
Seit den Anfängen der Höhlenmalerei ist das Geschichtenerzählen eines der wichtigsten Mittel zur Schaffung und Weitergabe unserer Kultur. Dadurch wurde die menschliche Sprache weiterentwickelt und konnte auch auf abstrakte Dinge Bezug nehmen, die über unmittelbare Gefahren oder Nahrung hinausgingen.
Dank mündlicher Überlieferungen konnten Sprichwörter, Rätsel, Märchen, Kinderreime, Legenden, Mythen, Lieder und Gedichte, Zaubersprüche, Gebete und Gesänge fortleben. So war es Kulturen möglich, zusammenzuhalten und intakt zu bleiben und Wissen, Erfahrungen und Werte an die nächsten Generationen weiterzugeben. Es ist kein Zufall, dass viele Projekte zur Wiederbelebung von Sprachen wie Wikitongues und das Endangered Languages Project es sich zur Aufgabe gemacht haben, einige dieser Überlieferungen zu dokumentieren, um so Minderheitensprachen zu schützen, die vom Aussterben bedroht sind.
Geschichten wirken sich außerdem positiv auf die Chemie in unserem Gehirn aus. In einer Studie aus dem Jahr 2013 haben Forschende herausgefunden, das Teilnehmende nach dem Lesen von Belletristik, die sie emotional berührte, empathischer reagierten als nach dem Lesen von Sachliteratur oder von Belletristik, dessen Geschichte sie emotional nicht ansprach. Emotional von einem Buch oder einem Film berührt zu sein, bedeutet für gewöhnlich, dass man die gleichen Gefühle erlebt, die die Charaktere der Geschichte unserer Vorstellung nach auch erleben müssen. Mit je mehr Geschichten man sich verbunden fühlt, so die Theorie, umso empathischer wird man im echten Leben.
Laut der Psychologin Pamela Rutledge beeinflusst Storytelling das Gehirn auch auf zahlreichen anderen Ebenen. Das Gehirn schüttet als Reaktion auf ein emotionales Ereignis, die Lösung eines Konflikts oder das Erkennen eines Musters Dopamin aus, was das Erinnerungsvermögen stärkt. Konflikte in einer Geschichte sorgen außerdem für das Ausschütten von Cortisol, was ebenfalls unsere Aufmerksamkeit und unser Gedächtnis fördert. Und die Empathie, die wir für Personen einer Geschichte empfinden, ist das Ergebnis von Oxytocin, Spiegelneuronen und neuronaler Kopplung (die das Gehirn der lesenden Person mit dem der erzählenden Person synchronisiert).
Wie kann Storytelling unsere Sprachkenntnisse verbessern?
Tipp: Eine mögliche Antwort auf diese Frage hast du bereits im vorherigen Abschnitt gelesen. Geschichten sorgen häufig dafür, dass Dopamin und Cortisol im Gehirn ausgeschüttet werden. Dadurch werden die damit verbundenen Ereignisse leichter im Gedächtnis abrufbar. Kurz gesagt: Du kannst dir Vokabeln und Grammatikregeln, die du anhand einer interessanten Geschichte lernst, leichter merken. Emotionen helfen dem Gedächtnis. Und zwar so sehr, dass Kognitionspsychologe Jerome Bruner sogar davon ausgeht, dass wir uns 22-mal eher an Fakten erinnern, wenn sie uns als Teil einer Geschichte erzählt werden.
Abgesehen von dem neurowissenschaftlichen Hintergrund eignet sich Storytelling natürlich ganz besonders gut für die Bereiche des Sprachenlernens, die uns schwerfallen. Wir lernen Vokabeln effektiver im Zusammenhang eines ganzen Satzes oder einer Geschichte, weil wir so ganz natürlich Hinweise auf den Kontext sowie Grammatik- und Syntaxregeln aufnehmen. Darüber hinaus ist das Lernen durch Geschichten ein effektiveres Werkzeug, weil es einfach interessanter und ansprechender ist als mit Karteikarten oder Grammatikbüchern zu lernen. Wenn deine Aufmerksamkeit damit länger aufrechterhalten wird, warum es nicht ausprobieren?
Der Italiener Luca Sadurny spricht mehrere Sprachen und ist ein Befürworter des Sprachenlernens durch Storytelling. Einer seiner besten Tipps, um Sprachlerngeschichten in praktische Übungen zu integrieren, besteht darin, Geschichten und Sätze um den jeweiligen Lernstoff zu bilden, um so neue Wörter miteinander in Bezug zu setzen. Wenn du ein neues Wort mit etwas in Verbindung bringst, das du schon kennst oder interessant findest, kannst du es dir leichter einprägen. Wenn du es mit einem emotionalen Ereignis aus der Vergangenheit oder einem interessanten Bild in Verbindung bringen kannst, umso besser.
Du möchtest wissen, wie du Storytelling in deine Lernroutine einbinden kannst? Es gibt glücklicherweise ein bewährtes Vorgehen dafür. Sprachlehrer Blaine Ray hat sich in den 1980er Jahren die TPRS-Methode ausgedacht. Die Abkürzung steht hier für Teaching Proficiency through Reading and Storytelling („Kompetenzvermittlung durch Lesen und Geschichtenerzählen“).
Die drei wichtigsten Schritte der TPRS-Methode sind:
- Bedeutung verleihen: Hierbei geht es vor allem darum, neue Vokabeln einzuführen oder die Lernenden anhand einer Übersetzung mit der Kernidee der Geschichte vertraut zu machen. Möglicherweise müssen sie auch die Bedeutung einer neuen Vokabel anhand des Kontextes herausfinden.
- Fragen zur Geschichte stellen: Die Lernenden selbst müssen eine Geschichte mit den neuen Wörter entwickeln, oder sie hören sich eine Geschichte an, die schon geschrieben wurde. Die Lehrkraft spielt diese erneut ab oder liest sie ein paar Mal vor. Die Lernenden beantworten dann ein paar Fragen zur Geschichte und prüfen so ihr Textverständnis.
- Lesen und diskutieren: Die Lernenden lesen die Geschichte selbst ein paar Mal, damit sich die Vokabeln im Gedächtnis einprägen.
Du kannst diese Methode leicht selbst nachmachen oder dafür Lernmedien nutzen, die für diesen Zweck erstellt wurden, zum Beispiel mit Un Día En Español, dem Spanisch-Podcast von Babbel, der Kurzgeschichten auf Englisch und Spanisch erzählt und Vokabeln für Anfänger:innen vermittelt.
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