Kann Sprache die Moral beeinflussen?

Studien haben gezeigt, dass sich unsere Überzeugungen von „richtig“ und „falsch“ verändern, wenn wir in einer anderen Sprache denken. Hat Sprache also Einfluss auf unsere Moralvorstellungen?

Ist Moral rein subjektiv oder gibt es einen neutralen moralischen Kompass, unbeeinflusst von kulturellen Zuschreibungen?

Das Bild objektiver Einteilungen in „richtig“ und „falsch“ ist fest in unserem kollektiven Gedächtnis verankert, egal ob unsere jeweilige Kultur vom Christentum, Judentum oder Islam geprägt ist.

Die Wissenschaft stellt diese Überzeugung jedoch seit einiger Zeit in Frage, und mittlerweile rütteln diverse Untersuchungen an diesem scheinbar unerschütterlichen moralischen Gerüst. Sie zeigen, dass moralische Entscheidungen, die wir in einer anderen Sprache treffen, dazu tendieren, weniger emotional, unvoreingenommener und utilitaristischer zu sein als solche, die wir in unserer Muttersprache treffen.

Schauen wir uns dafür ein paar Beispiele an.

Das Trolley-Problem

Dieses klassische Gedankenexperiment, im deutschsprachigen Raum auch als Weichenstellerfall bekannt, stellt die Befragten vor ein moralisches Dilemma: Ein führerloser Güterzug rast auf fünf Menschen zu, die im Falle eines Aufpralls sterben werden. Du hast die Möglichkeit, den Zug durch Umlegen eines Hebels auf ein Nebengleis umzuleiten, auf dem nur ein Mensch feststeckt. In dem einen Fall sterben fünf Menschen, in dem anderen einer. Was tust du: Legst du den Hebel um oder nicht?

Albert Costa hat 2014 in einer Studie freiwillige Probandinnen und Probanden vor dieses Problem gestellt. 81% würden den Hebel umlegen, nachdem ihnen das Gedankenexperiment in ihrer Muttersprache präsentiert wurde. Von denjenigen, die in einer Fremdsprache darüber nachdachten, würden 80% den Zug umleiten.

Okay, hier ist der Unterschied noch nicht so groß. Eine zweite, ziemlich umstrittene Variante des Trolley-Problems hat die Freiwilligen dann schon mehr polarisiert: In diesem Fall müsstest du einen sehr dicken Mann von einer Brücke stoßen, um den Zug auf dem Gleis zu stoppen. Du müsstest also aktiv ein Menschenleben opfern, um die anderen fünf zu retten. Hier haben sich 20 % in ihrer Muttersprache für diese Option entschieden. In einer Fremdsprache hingegen hätten 33 % den Mann von der Brücke gestoßen.

Natürlich sind die Überlegungen, die in diese Untersuchung eingeflossen sind, komplexer als hier zusammengefasst, aber die Quintessenz der Studie ist, dass Menschen sich in einer Fremdsprache weniger von ihren Emotionen steuern lassen und sich dementsprechend gemeinnütziger entscheiden. Die beteiligten Wissenschaftler beziehen sich in ihrer Erklärung auf die Moralpsychologie, der zufolge moralische Urteile von zwei Faktoren beeinflusst werden: von reflexartigen Entscheidungen aus dem Bauch heraus und von bewussten, rationalen Überlegungen. Die emotionale Reaktion konzentriert sich meist eher auf die Rechte einer Einzelperson, die rationale hingegen nimmt eher das große Ganze und so das Allgemeinwohl in den Blick.

 

Wo kein Kläger, da kein Richter?

In einer anderen Studie hat Janet Geipel ihre Probandinnen und Probanden mit diversen Szenarien konfrontiert, in denen niemand verletzt wird, die aber gemeinhin als moralisch verwerflich gelten: einvernehmlicher Inzest zum Beispiel. Auch relativ glimpfliche Situationen, wie das Erzählen einer Notlüge, um an einen günstigeren Tarif zu kommen, wurden betrachtet. Diejenigen, die diese Szenarien in einer Fremdsprache lasen, reagierten weniger streng als die, die sie in ihrer jeweiligen Muttersprache präsentiert bekamen. Dies legt nahe, dass wir uns in einer Fremdsprache leichter von sozialen und moralischen Normen distanzieren.

Sprache als emotionaler Anker

Diese Studien zeigen, dass wir – zumindest theoretisch – weniger emotional reagieren, wenn wir eine Sprache sprechen und denken, die sich nicht „natürlich“ für uns anfühlt.

Albert Costa und seinem Team zufolge hat das damit zu tun, dass sich unser Entscheidungsprozess verlangsamt, wenn wir vorsichtiger und bewusster an ihn herangehen. Das jeweilige Sprachlevel der Teilnehmenden wurde ebenfalls getestet und diejenigen, die in der Fremdsprache noch nicht so flüssig waren, haben sich eher für die utilitaristische Variante entschieden als der Rest – zumindest beim Brückendilemma. Im klassischen Weichenstellerfall haben die Teilnehmenden, die ihre jeweilige Fremdsprache sehr flüssig sprachen, sich eher so verhalten, wie sie es auch in ihrer Muttersprache tun würden.

Je besser du eine Fremdsprache demnach sprichst, desto emotional gefestigter fühlst du dich auch in ihr. Sie bietet dir quasi ein zweites Zuhause. Daher ist es wahrscheinlicher, dass du in einer Sprache, die du gut beherrschst, ähnlich emotional reagierst wie in deiner Muttersprache.

Cathleen Caldwell-Harris, Psychologin an der Universität Boston, bestätigt ebenfalls, dass Fremdsprachen weniger emotionales Gewicht tragen. In einer ihrer Studien fand sie heraus, dass emotional aufgeladene Aussagen bei türkischen Studierenden eine schwächere Reaktion hervorriefen, wenn sie ihnen auf Englisch präsentiert wurden.

Laut diesen Theorien ist Sprache an Erinnerungen geknüpft und somit emotional aufgeladen, was die Wahrscheinlichkeit einer gefühlsgeladenen Reaktion erhöht. Immerhin ist unsere Muttersprache das Medium, in dem wir unsere allerersten Erfahrungen gemacht und gelernt haben, wie wir unsere Gefühle überhaupt ausdrücken können.

Sollten wir uns also von unseren Emotionen leiten lassen oder lieber versuchen, objektiv zu sein? Es ist nicht einfach, zu entscheiden, ob die besten moralischen Entscheidungen von Mitgefühl oder von distanzierter, utilitaristischer Logik geprägt sein sollten. Aber angesichts stetig kursierender moralischer Debatten ist es zumindest schon mal gut zu wissen, wie die Mechanismen dahinter überhaupt funktionieren.

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